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Einleitung
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die Abschlussarbeit im Rahmen der Ausbildung zum systemischen Coach. Grundsätzliches Ziel der Abschlussarbeit ist es, sich entweder mit einer Methode oder mit einem Coaching-Prozess intensiver auseinanderzusetzen.
In der vorliegenden Arbeit soll die Methode der wertschätzenden Erkundung (Appreciative Inquiry/AI) vorgestellt werden. Da es sich hier um eine reine Reflexionsarbeit und nicht um eine wissenschaftliche Arbeit handelt, wird auf ein Literaturverzeichnis verzichtet.
Vorstellung der Methode
Die Methode der wertschätzenden Erkundung wurde Mitte der 1980er Jahre von David Cooperrider und Suresh Srivastva entwickelt.
Bei der Entwicklung dieser Technik ging es ihnen darum, Organisationen einen positiven Ansatz zur Organisationsentwicklung an die Hand zu geben, der es möglich machte, möglichst viele Mitglieder der Organisation aktiv an dem Prozess zu beteiligen.
In die wertschätzende Erkundung gingen Einflüsse anderer bekannter Organisationsentwicklungsmethoden mit ein, wie z. B. Open Space Technology, Whole Scale Change, die lernende Organisation sowie die Zukunftskonferenz.
Diese Methode passt insofern in den Kontext der systemischen Coaching-Ausbildung, weil sie ressourcenorientiert ist, indem sie die Stärken eines Systems mit gezielten Fragen herausarbeitet und die Mitglieder der Organisation selbst auf dieser Grundlage eine Entwicklungsrichtung für die Zukunft erarbeiten.
Prozess
Der Prozess lässt sich in fünf Phasen gliedern, die in der Folge näher beschrieben werden
- Definition
Leitfrage für diese Phase: Was wollen wir anschauen, untersuchen, analysieren?
In dieser Phase geht es darum, Klarheit zu schaffen und den Gegenstand der Untersuchung festzulegen.
Möglicherweise greift man dazu auf eine Mitarbeiterbefragung, Kundeninterviews, eine Mitbewerberanalyse oder auf ein bereits vorliegendes strategisches Ziel zurück. - Discovery
Leitfrage für diese Phase: Was ist bereits gut und wo liegen unsere Stärken?
Dieses Phase ist die Entdeckungsphase und die Phase des Verstehens und der Wertschätzung.
Mögliche Werkzeuge für diese Phase: Wertekommunikation, Wertefragebogen, Workshops. - Dream
Leitfrage für diese Phase: Wo wollen wir hin, was ist das Traumziel?
In dieser Phase ist Träumen ausdrücklich erwünscht – Visionen werden entworfen und erträumt, wie es im besten Fall sein könnte.
Mögliche Werkzeuge für diese Phase: Brainwriting, Mindmapping, Workshops. - Design
Leitfrage für diese Phase: Was müssen wir, bezogen auf unser Ziel, stärken?
In dieser Phase wird erarbeitet, was sein sollte und Visionen werden entwickelt sowie Entscheidungen getroffen.
Als Methode für diese Phase bietet sich Co-Creation an. - Destiny
Leitfrage für diese Phase: Wie können wir uns dem Ziel konkret nähern?
Diese Phase ist die Umsetzungsphase – die nächsten Schritte werden festgelegt und neue Ideen verwirklicht.
Anwendungsbeispiel/Praxiserfahrung
Die Methode der wertschätzenden Erkundung lässt sich nicht nur sehr gut in der Organisationsentwicklung einsetzen, sondern auch in der Teamentwicklung, z. B. im Rahmen einer Retrospektive.
Eine Retrospektive wird im agilen Kontext regelmäßig am Ende einer Iteration gemacht und bietet den Raum für den kontinuierlichen Lern- und Reflexionsprozess des Teams.
Sie ist somit der wesentlicher Motor für die Entwicklung des Teams.
Sie besteht klassisch aus folgenden fünf Phasen:
- Set the stage/Einstieg
Ziel dieser Phase ist es, dass alle Teilnehmer ankommen und sich auf die Retrospektive einstellen. - Gather data/Themen und Daten sammeln
Ziel dieser Phase ist es, gemeinsam Geschehenes und Informationen als Datenbasis für die nächste Phase wieder in Erinnerung zu rufen. - Generate insides/Erkenntnisse gewinnen
Ziel dieser Phase ist es, die unterschiedlichen Themen näher zu erörtern und verschiedene Standpunkte und Sichtweisen transparent zu machen. - Decide what to do/Entscheidungen treffen
Ziel dieser Phase ist es, gemeinsame Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen abzuleiten, die in der Folge umgesetzt werden. - Close/Abschluss
Ziel ist es, die Retrospektive abzuschließen.
In meiner Tätigkeit als Agile Coach habe ich mit dieser Methode sehr gute Erfahrungen beim Einsatz in einer Retrospektive mit dem Team gemacht, das ich betreut habe.
Die Stimmung im Team war zu diesem Zeitpunkt angespannt, es herrschte viel Frustration angesichts unterschiedlicher technischer Restriktionen, die immer wieder thematisiert wurden.
In den letzten Retrospektiven nahmen diese Restriktionen einen großen Raum ein, und das Team tat sich immer schwerer damit, sich Themen zuzuwenden, die in ihrem Einflussbereich lagen und dafür konkrete Handlungen zu definieren.
In dieser Situation lautete meine Hypothese:
Das Team befindet sich in einer Problemtrance und ist sich seines wertvollen Beitrags und seiner sehr wohl vorhandenen Handlungsspielräume nicht mehr bewusst.
Problem talk creates problems, solution talk creates solutions. (Steve de Shazer)
In dieser Situation habe ich ausgehend von meiner Hypothese und dem angeführten Zitat von Steve de Shazer nach Möglichkeiten gesucht, wie ich das Team dabei unterstützen kann, in eine lösungs- und ressourcenorientierte Haltung zurückzufinden und bin auf die wertschätzende Erkundung gestoßen.
Die wertschätzende Erkundung lässt sich – in abgespeckter Form – sehr gut auf die Phasen einer Retrospektive verteilen:
- Set the stage → keine Änderung
- Gather data → Definition
- Generate insides → Discovery + Dream
- Decide what to do → Design + Destiny
- Close → keine Änderung
Ich habe somit meine Hypothese mit dem Team geteilt und vereinbart, dass wir die Retrospektive darauf verwenden werden, auf Schatzsuche zu gehen.
Für die Phase der Themensammlung habe ich dem Team folgende Fragen zur Beantwortung gegeben:
– Wann warst du zuletzt richtig motiviert und produktiv? In welchem Kontext war das, was hast du gemacht? Wie fühlte es sich an?
– Auf welches Feature, das du in diesem Team gebaut hast, bist du stolz? Was ist das Besondere daran?
– Was von dem, was du für dieses Unternehmen gemacht hast, stellt den höchsten Wertbeitrag dar? Worin besteht der besondere Wert?
– Zu welchem Zeitpunkt und in welchem Kontext hast du am besten mit dem Team zusammengearbeitet?
– Was war dein wertvollster Beitrag zur Entwickler-Community im Unternehmen? Was macht ihn so wertvoll?
– Bescheidenheit war gestern: was ist deine wertvollste Fachkenntnis und was deine wertvollste Charaktereigenschaft für das Team?
Die Antworten wurden laut vorgetragen und auf einem vorbereiteten Bord gesammelt.
Danach habe ich das Team aufgefordert, sich gedanklich in die Zukunft zu versetzen und sich vorzustellen, dass die nächste Iteration perfekt gelaufen ist.
Ich habe sie dann gefragt, was zu diesem traumhaften Ergebnis geführt hat und was sie während er perfekten Iteration erlebt und gefühlt haben.
Im Anschluss haben wir erörtert, was aus der vorangegangen Übung sich für die nächste Iteration anwenden lässt, um der perfekten Iteration ein gutes Stückchen näher zu kommen.
Schlussfolgerung
Die Methode der wertschätzenden Erkundung eignet sich sicher nicht für jeden Kontext.
Es kann auch wertvoll sein, Problemen und Schwierigkeiten Raum zu geben.
Jedoch lässt sie sich in unterschiedlichen Kontexten sinnvoll einsetzen, insbesondere bei komplexen Fragestellungen.
Während ein eher problemorientierter Ansatz häufig Widerstand und Rechtfertigungsdruck erzeugt, führt der Ansatz, sich vorhandene Muster des Gelingens bewusst zu machen und diese ganz explizit für die zukünftige Nutzung zu verstärken, in der Regel zu einer hohen Motivation und Offenheit bei den Beteiligten, die dadurch eine große Wertschätzung für bereits Geleistetes erfahren.
Bei meinem praktischen Anwendungsbeispiel war es sehr spannend zu beobachten, wie das Team nach anfänglicher kurzer Skepsis sich mit großer Begeisterung in die Beantwortung der Fragen gestürzt hat und in der Lage war, sehr viele wertvolle Beiträge zu nennen, sowohl jedes einzelne Teammitglied aus seiner persönlichen Perspektive, als auch für das Team insgesamt.
In diesem Fall war es sehr hilfreich, das Muster der Problemtrance zu durchbrechen, um wieder eine neue Perspektive einnehmen zu können.