Der Scrum Master im Spannungsfeld zwischen
Einzel-, Team- und Organisationsinteressen
Abschlussarbeit von Christian Jähde, als PDF lesen
Einleitung
Die Aufgaben eines Scrum Masters sind vielfältig.
Sie reichen von der Organisation und Moderation von Terminen, über die Wissensvermittlung und Ausbildung, die Entwicklung und Unterstützung des Teams bis hin zur Vermittlung agiler Werte und der Förderung eines agilen Kulturwandels im Unternehmen.
Sowohl im Scrum Guide von Ken Schwaber und Jeff Sutherland als auch in zahlreichen Fort- und Ausbildungsangeboten und in den meisten Stellenprofilen, in denen Scrum Master Positionen ausgeschrieben sind, taucht immer wieder der Begriff des Coachings als wesentlicher Aspekt im Verantwortungsbereich des Scrum Masters auf.
Was aber bedeutet Coaching in diesem Kontext?
Welche Fähigkeiten und vor allem welche Kompetenzen braucht ein Scrum Master, um ein guter Coach zu sein?
Wie hilfreich sind Vorerfahrungen oder eine Ausbildung als systemischer Coach für die Arbeit eines Scrum Masters im Spannungsfeld zwischen Einzel-, Team- und Organisationsinteressen?
Um dieses Spannungsfeld zu beleuchten, betrachten wir zunächst den Verantwortungsbereich eines Scrum Masters. Anschließend werfen wir einen Blick darauf was die Rollen Scrum Master und Systemischen Coach verbindet und was sie unterscheidet.
Während der Systemische Coach Experte auf seinem Gebiet ist und das Coaching über Jahre perfektioniert, ist der Scrum Master eher Generalist und nimmt gleichzeitig mehrere Rollen ein:
Coach, Trainer, Facilitator, Organisationsentwickler und Mentor.
Dadurch bringt die Position des Scrum Masters die Herausforderung mit sich, situativ in die geeignete Rolle zu schlüpfen.
Zudem birgt sie einiges an Konfliktpotential aufgrund der zunehmend an ihn formulierten Erwartungshaltung in Bezug auf die Verantwortung für die Produktivität des Teams.
Schlussendlich versuchen wir anhand der Betrachtung eines Beispiels aus der Praxis die Frage zu beantworten, ob bzw. unter welchen Bedingungen ein Scrum Master als Systemischer Coach in der eigenen Organisation agieren kann, ohne seine Kompetenzen zu überschreiten.
Verantwortungsbereich des Scrum Masters
Der Scrum Master ist als Trainer, Facilitator, Mentor, Organisationsentwickler und Coach dafür verantwortlich, das Team und seine Mitglieder auszubilden, zu coachen und zu unterstützen.
Dabei muss er die Teamdynamik verstehen und im positiven Sinne beeinflussen. Bei Bedarf muss er als Konfliktmanager agieren und dabei ein neutraler „Anwalt der Sache“ sein.
∘ Als Trainer vermittelt er Wissen zu agilen Werten, Grundsätzen, Prinzipien und Praktiken
– auf Team- wie auf Organisationsebene.
∘ Als Facilitator hilft er Gruppen dabei (z.B. durch geeignete Moderation von Workshops), sich gemeinschaftlich in Veränderungsprozesse einzubringen, Themen und Anliegen zu besprechen und konkrete Lösungsschritte zu gehen.
∘ Als Mentor steht er den Teammitgliedern im Sinne einer Servant Leadership beratend zur Seite.
∘ Als Organisationsentwickler transportiert er agile Werte, Grundsätze, Prinzipien und Praktiken über die Teamgrenzen hinweg und begleitet den kulturellen Wandel im Unternehmen.
∘ Als Coach unterstützt er das Team und einzelne Teammitglieder in Bezug auf den Umgang mit Veränderungen und untereinander.
In der Praxis sehen viele Unternehmen im Scrum Master denjenigen, der für die Teamproduktivität verantwortlich ist.
Diese Erwartungshaltung deckt sich nicht mit dem Rollenverständnis, das im Scrum Guide vom Scrum Master besteht. Dort heißt es, dass …
… der Scrum Master lediglich dabei helfen solle, die Zusammenarbeit des Teams zu optimieren, so dass der durch das Scrum-Team generierte Wert maximiert wird.
Je nachdem welcher Lesart man folgen will, kann das Verständnis davon woran sich ein erfolgreicher Scrum Master messen lässt somit sehr unterschiedlich sein.
Der Coachingbegriff im Systemischen Coaching und im agilen Umfeld
Systemisches Coaching von Einzelpersonen hat das Ziel, den Klienten dabei zu helfen, für ein persönliches Problem oder Anliegen eine subjektiv empfundene passende Lösung zu finden.
Der Klient ist dabei der Experte für sein Anliegen und die zu entwickelnde Lösung. Der Coach unterstützt die Entwicklung der Lösung, indem er beim Klienten über geeignete Frage- und Interventionstechniken Ressourcen aktiviert und den Klienten über einen von ihm gewünschten Zeitraum bei der Umsetzung von Veränderungen begleitet.
Systemisches Coaching ist eine Beratung ohne Ratschlag
Die Lösung, die der Klient dabei für sich entwickelt, muss sich vor allen Dingen in seinen persönlichen Rahmen einfügen.
Übergeordnete Interessen – etwa solche des Teams oder der Organisation, von denen der Klient ein Teil ist – werden vom Coach nur insoweit berücksichtigt, als dass er ihm beispielsweise über zirkuläre Fragen dabei hilft, die Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf das Umfeld des Klienten sichtbar zu machen.
Schlussendlich geht es aber um die Frage, ob die Lösung passend für den Klienten ist und nicht ob sie passend für das Umfeld erscheint.
Das Verständnis von Coaching im Umfeld agiler Arbeitsweisen – also so wie es Teil des Profils eines Scrum Masters ist – weicht davon ab.
Coaching in diesem Kontext ist eng verbunden mit dem Konzept der Servant Leadership.
Den Servant Leader zeichnet eine bestimmte Grundhaltung aus, die den eigenen unmittelbaren Nutzen dem Wohl der Geführten und der Organisation bzw. einem höheren Zweck unterordnet.
Für die Geführten – also das Team und seine Mitglieder – ist der Scrum Master demzufolge ein Coach, der ihnen dabei hilft, ihr Entwicklungspotenzial zu entfalten, indem er ihnen dienend begegnet und so dazu beiträgt, dass Menschen und Organisationen wachsen können.
Eine besondere Bedeutung hat die Begleitung der Geführten bei der Bewältigung von Veränderungsprozessen. Auf diese Weise ermöglicht der Scrum Master als Servant Leader und Transformationsbegleiter einen langsamen kulturellen Wandel innerhalb von Organisationen.
Scrum Master und Systemischer Coach – eine Gegenüberstellung
Beide Rollen haben auf den ersten Blick ähnliche Vorbedingungen, die insbesondere die Haltung betrifft, mit der beide der Welt gegenüberstehen. Bei genauerer Betrachtung gibt es aber einige wichtige Unterschiede.
Neutralität bzw. Allparteilichkeit
Beiden ist gemeinsam, dass sie bei der Ausübung ihrer Tätigkeit eine neutrale Haltung einnehmen müssen.
Der Scrum Master ist – insbesondere in Konfliktsituationen innerhalb des Teams – nur dem Gesamtwohl des Teams verpflichtet. Ein Parteiergreifen für eine Konfliktpartei ist unter keinen Umständen akzeptabel. Diesem Verständnis folgend muss er also stets neutral bleiben.
Beim systemischen Coach geht diese Neutralität sogar noch weiter, bis hin zu einer Allparteilichkeit.
Ist der Scrum Master – wie oben beschrieben – insbesondere angehalten, in Konfliktsituationen neutral zu bleiben, so muss der Systemische Coach diese neutrale Haltung vor allem einnehmen, damit er dem Klienten dabei helfen kann, alle Mitglieder des persönlichen Systems aus deren Perspektive heraus zu verstehen und deren Sichtweisen wertzuschätzen
(„Mal angenommen Person XY wäre jetzt hier, was würde sie Ihnen in diesem Augenblick sagen?“).
Trennung von Beobachtung und Bewertung
Ein wichtiger Teil der Arbeit eines Scrum Masters besteht darin, das Team hinsichtlich seiner Fähigkeit zur Selbstorganisation als Servant Leader zu coachen. Das gemeinsame Ziel des Teams – mit dem Scrum Master als Teil davon – ist die kontinuierliche Verbesserung der Prozesse und der Zusammenarbeit.
Der Scrum Master ist zwar Teil des Scrum Teams, steht i.d.R. aber außerhalb des Entwicklungsteams und ist in dieser Funktion gewissermaßen in der Beobachterrolle.
Um das Team bestmöglich auf der erfolgreichen Suche nach Verbesserungen zu unterstützen, muss er in der Lage sein, Abläufe, Prozesse und Zusammenhänge sachlich zu analysieren, ohne allzu früh Schlüsse zu ziehen, diese zu bewerten oder Vorgaben für das Team zu machen.
Eine anschließende Bewertung in Form einer gedanklichen Gegenüberstellung der Beobachtung mit Erfahrungen aus der Vergangenheit ist nur dann sinnvoll, wenn sie strukturiert und gemeinsam mit dem Team erfolgt.
Die Grundlage für eine kontinuierliche Verbesserung des Teams sind letztlich, das Herstellen von Transparenz und die anschließende Anwendung empirischer Prozesskontrolle (Transparence, Inspect & Adapt).
Wichtig sind dabei zwei Dinge:
• die Trennung von Beobachtung und Bewertung
• und das Sicherstellen der gemeinsamen Reflektion des Teams.
Wenn der Scrum Master Zusammenhänge erkennt, Schlüsse daraus zieht und die Erfahrungen aus der Vergangenheit auf die Zukunft überträgt, ohne dass das Team dies ebenfalls tut, sind die Erkenntnisse zum einen wertlos und zum anderen möglicherweise vollkommen ungeeignet.
Der Scrum Master muss dem Team also vermitteln, wie und warum Beobachtungen anzustellen, Einschätzungen zu geben und Schlüsse zu ziehen sind.
Der Systemische Coach braucht eine demütige Grundhaltung des Nicht-Wissens.
Der Coach agiert stets beobachtend bzw. als Spiegel für den Klienten und niemals bewertend.
Nichts was der Coach im Gespräch mit seinem Klienten fragt, spiegelt oder vorschlägt entspringt aus einer überlegenen Haltung heraus.
Der Coach weiß niemals welcher Weg für einen Klienten der geeignete ist und welche Lösung überhaupt nicht passt.
Dies gilt unabhängig davon was der Coach ggf. an persönlichen Erfahrungen hat – und seien diese auf den ersten Blick noch so vergleichbar – oder welche vermeintlichen Parallelen es in einer Sitzung mit einem Klienten zu einer Sitzung mit einem anderen Klienten gibt.
In einem Gespräch zwischen Coach und Klient ist der Klient immer der Experte für sein Problem bzw. Anliegen.
Der Coach hingegen ist der Experte für den Prozess.