Sexualität als Coachingthema

Abschlussarbeit von Janne Heitkamp, als PDF lesen


Mein Name ist Janne Heitkamp.

Ich bin staatlich anerkannte Physiotherapeutin, arbeite seit 2004 in diesem Beruf und habe mich 2017 nebenberuflich selbstständig gemacht als Sexualberaterin für Menschen mit hauptsächlich geistiger Behinderung.

Menschen sehr nah (körperlich und geistig) auf unterschiedliche Art zu betreuen ist also mein tägliches Brot.

In der Physiotherapie konzentriere ich mich auf die somatischen Anliegen der Patienten. In der Sexualberatung auf die psychischen Anliegen der Klienten, die aufgrund ihrer Behinderung eine besondere Gruppe bilden.  Was mir bis jetzt gefehlt hat, ist die psychisch-emotionale Begleitung von Menschen ohne geistige Behinderung.

In meinen bisherigen Tätigkeitsfeldern sind das z. B. psychosomatische Patienten, das Umfeld meiner Sexualberatungsklienten (Eltern, Betreuer etc.), Menschen mit besonderen sexuellen Fragestellungen (siehe unten) oder Coachees mit sämtlichen Anliegen des täglichen Lebens.

Um diese Lücke zu füllen, habe ich die Ausbildung für Systemisches Coaching absolviert. Ich glaube, auf diese Art und Weise noch mehr Menschen auf einer weiteren und wichtigen Ebene unterstützen zu können.

Was mir am Konzept des Systemischen Coachings besonders gefällt ist, Menschen in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken.

Die Lösung sämtlicher Probleme und Fragestellungen liegt im Coachee selbst, nur der Weg zur Lösung ist unbekannt.

Mit meinen Methoden unterstütze ich den/die Coachee darin, diesen Weg zu finden. Durch die Nutzung der eigenen Ressourcen bleiben sie aber von mir als Coachin unabhängig und werden Krisen gegenüber widerstandsfähiger.

Dabei ist es mir wichtig, das vorhandene Problem zu würdigen, mich aber auf den Lösungsansatz zu fokussieren.

Hinzu kommt der Konstruktivismus, also die Annahme, dass jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit kreiert und ich nur einen Bruchteil dessen wahrnehmen kann, was in der Welt des/der Coachee vorhanden ist.

Diesen Bruchteil mache ich mir im Coaching zunutze, um anhand der eigenen Bedürfnisse und Wünsche des/der Coachee im Coachingprozess schrittweise Lösungen für vorhandene Fragestellungen zu erarbeiten.

Coaching bedeutet für mich also ein Prozess der Unterstützung, den beide Beteiligten (Coach und Coachee) aktiv miteinander bestreiten.

Sollte ich während dieses Prozesses Vermutung haben bzw. deutlich werden, dass der/die Coachee definierte, tieferliegende psychische oder physische Störungen hat, verweise ich auf entsprechende ärztliche und/oder therapeutische Fachkräfte.

Auch gravierende persönliche Differenzen oder ein ausschließlicher Beratungswunsch des/der Coachee können für mich zum Abbruch des Coachingprozesses führen.

Gelingt jedoch der Prozess, glaube ich an einen deutlichen Mehrwert für die Entwicklung des gesamten heimischen Systems des/der Coachee.

Wie kommt nun das Thema Sexualität ins Spiel?

Die Balance zwischen Körper und Seele ist für mich eine wichtige Basis.

Sexualität ist aufgrund der Fortpflanzungsfunktion neben der Nahrungsaufnahme eine der zwei evolutionären Kernbedürfnisse (Lebensgrundlage).

Gibt es Störungen in unserem Sexualleben, wirkt sich dies äußerst negativ auf unser physisches und psychisches Befinden aus. Störungen in diesem Bereich haben meiner Ansicht nach zu einem Großteil ihre Ursache in der nicht vorhandenen oder unehrlichen Kommunikation zwischen Sexualpartnern.

Wobei man selbst durchaus auch der eigene Sexualpartner sein kann.

Das Thema Sexualität bietet viel Potential für unterschiedlichste Konflikte, die Anliegen für ein Coaching sein können:

▪ Sexualität in der Partnerschaft funktioniert nicht (mehr);

▪ „Abweichung von der Norm“, z. B. Homosexualität, die nicht anerkannt wird;

▪ Sex als Stressabbau;

▪ „Gut sein im Bett“ als gesellschaftlicher Anspruch;

▪ Sex an sich als Konfliktlösung/Versöhnungssex;

▪ Sexismus; sexuelle Belästigung und/oder Übergriffigkeit

– sowohl im privaten als beruflichen Kontext; wichtig hier: Abgrenzung, falls Therapie notwendig ist;

▪ Alte Glaubenssätze:

Männer müssen Potenz zeigen, Frauen unterwürfig sein;

▪ Körperliche Unterschiede in z. B. der Erregung: Männer schnell, Frauen langsam;

▪ „Mein Kind ist schwanger“;

▪ Missbrauchserfahrungen;

▪ Einschränkungen durch z. B. Krankheiten oder Alter;

▪ u.v.m.

Beispiel aus der Praxis

Aufgrund eigener Erfahrungen und der Arbeit als Sexualberaterin biete ich im Coaching den Schwerpunkt Beziehung/Partnerschaft/Sexualität.

Ein Coaching zu diesem Thema möchte ich als Beispiel hier beschreiben.

Mein Coachee Sven* (43 Jahre alt) ist seit gut 4 Jahren mit seiner Partnerin Ines* zusammen (*Namen geändert). Sie bewohnen gemeinsam ein Haus, haben einen Hund und führen eine glückliche Partnerschaft.

Sven hat es schon immer gereizt, sexuell viel auszuprobieren und unterschiedliche Partnerinnen zu haben. In seinem Singleleben hat er dies intensiv ausgelebt.

Lange in einer monogamen Beziehung zu sein ist für ihn ungewohnt.

Anliegen des Coachees: Wieder mehr Schwung in das Sexleben bringen.

Sven berichtet, dass er und Ines sexuell „den Draht zueinander verloren haben“.

Im Alltag und in Laufe einer Beziehung sei es zwar normal, dass die Häufigkeit sexueller Handlungen abnimmt, er sieht aber zwei Aspekte, die hier vorwiegend eine Rolle spielen.

Seiner Ansicht nach steht Ines seinen Wünschen „breiteres sexuelles Umfeld, z. B. in Swingerclubs, erotische Pärchenabende, Dreier etc.“, zwar offen und neugierig gegenüber, hat aber ein geringes Selbstwertgefühl und traut sich nicht, ihre Wünsche auszuleben bzw. steht sich selbst dabei im Weg.

Darauf hat Sven wenig Einfluss.

Sven sagt, dass er sich ggf. zu sehr in das Thema hineinsteigert (2. Aspekt). Er würde Ines keinesfalls verlassen, nur weil sie seinen Wünschen nicht nachkommt.

Er merkt aber, dass ihm der Reiz des Neuen sehr fehlt und ihn die monogame Sexualität auf Dauer immer unzufriedener macht. Ines würde ihm sogar zugestehen, seine Phantasien mit Prostituierten auszuleben. Darum gehe es ihm aber nicht.

Er möchte diese Erlebnisse mit seiner Partnerin teilen.

Aktuell schweift er z. B. gedanklich oft ab und stellt sich vor, dass eine weitere Frau mit im Raum sei und zuschaut, während er mit Ines sexuell aktiv ist.

Auf meine Nachfrage hin berichtet Sven, was die beiden bis jetzt an Lösungsmöglichkeiten ausprobiert haben:

viel Kommunikation und Bücher mit einem Fragenkatalog, in die beide jeweils eintragen konnten, was ihnen gefällt und das haben sie gemeinsam ausgewertet. Mit Spielzeug und Massagen haben sie auch schon viel gemacht. Ebenso Slow Sex und Tantra Massagen.

Ines mag Romantik, Streicheleinheiten und Zärtlichkeiten. Und während Sven das erzählt bemerkt er, dass er auf ihre Wünsche schon länger nicht mehr eingegangen ist und sagt, dass er das mal wieder tun könne.

Im Grunde wisse er das, aber die Handlung fehlt, weil das zu ihm einfach nicht passt.

An dieser Stelle bitte ich Sven, ein konkretes Ziel für die heutige Session zu formulieren.

Dies wird seinerseits sehr breit formuliert und bezieht sich auf die Frage, ob Sven sich zu sehr hineinsteigert und es Sinn machen würde, sich erstmal wieder deutlicher auf seine Partnerin zu konzentrieren.

Durch mein Spiegeln und Paraphrasieren fällt auf, dass Sven sich zwar von Ines wünscht, dass sie ihm in seinen Wünschen entgegenkommt, er selbst aber auch selten bemüht ist, sich nach ihren Bedürfnissen zu richten.

Ihm ist außerdem klar, dass es für sie wesentlich schwieriger ist, seinen Wünschen nachzukommen als umgekehrt.

Erneut bitte ich Sven darum, das Ziel zu konkretisieren und damit bei sich selbst zu bleiben, da er -wie er bereits selbst angemerkt hat- an ihrem Selbstbewusstsein nichts bzw. nur wenig verändern kann.

Nach weiteren Schilderungen ergibt sich folgendes Ziel:

Eine Idee entwickeln, die Sexualität wieder spannender zu machen, idealerweise in Richtung meiner Bedürfnisse

Sven wünscht sich hierbei meine Unterstützung, kann sich aber nicht vorstellen, auf welche Art und Weise das möglich ist.

Hier baue ich eine Skalierungsfrage ein bezüglich der Differenz Soll/Ist.

Null = Sexualität in der Partnerschaft ist perfekt und genau wie ich es mir wünsche,
10 = ich trenne mich morgen von meiner Partnerin.

Sven gibt hier eine 3-4 an, da er mit Ines einen verbalen Austausch führen kann über das, was ihm fehlt. Ines kommuniziert darüber auch mit ihren Freundinnen.

Ich stelle folgende Zirkuläre Frage:

Stell dir vor, eine Freundin von Ines, die über die Thematik im Bilde ist, würde dir einen Tipp geben, wie du dich verhalten sollst. Was wäre das?

Sven berichtet, dass er keine Idee habe, sondern dass Ines‘ Freundinnen wissen, dass Ines ihren eigenen Körper nicht schön findet und sie daran arbeiten müsse.

Seiner Ansicht nach würde es ihr auch gut tun, wenn er ihr mehr Komplimente machen würde, aber er sieht diese externe Bestätigung als fragwürdig und gibt an, dass es letztlich nur helfen würde, wenn Ines in sich die Bestätigung erführe.

Ansonsten könnte eine Art Abhängigkeit entstehen. Diesen Versuch hat Sven in der Vergangenheit gemacht und ist damit gescheitert.

Ich erkläre Sven das Inselmodell um deutlich zu machen, dass er hauptsächlich von Ines redet und glaubt zu denken, was sie möchte oder schön fände oder sich wünschen würde, Ines‘ Insel tatsächlich aber nur in kleinen Teilen kennt.

Er versucht, an ihr zu arbeiten und ich frage, was passieren würde, wenn er versuchte, an sich selbst zu arbeiten.

Klar ist, dass es auch keinen Sinn macht, wenn er seine Bedürfnisse zu unterdrücken versucht. Aber weiter zusätzliche Ideen, wie er es schaffen könnte, neuen Schwung in ihr Sexleben zu bringen, hat er auch nicht.

Bekanntes reizvoller zu machen, ist nicht so einfach.

Ich greife Svens mehrfache Aussage auf, dass er sich offensichtlich im Kopf bereits vorstellt, dass eine fremde Frau beim Liebesspiel mit anwesend ist und ihn schon alleine diese Vorstellung erregt und frage, ob dies Teil einer Lösung sein könnte, da das Gehirn nicht zwischen Vorstellung und Realität unterscheidet.

Auf Dauer reiche ihm das nicht, meint Sven.


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