im Kontext von Lern- und Entwicklungsprozessen
Abschlussarbeit von André Kalweit, als PDF lesen
Einleitung
Unsere Lebensprozesse sind, insbesondere durch die immer ausgereiftere und weiter verbreitete Digitalisierung unseres Berufs- und Alltags, von äußeren Einflüssen sowie dem Streben nach Effizienz, Geschwindigkeit und schnellen Handlungen geprägt.
Mit wenig Aufwand so schnell wie möglich ans Ziel kommen lautet häufig die Devise in der Wirtschaft und auch vermehrt im Privatleben.
Wir alle haben doch viel zu wenig Zeit, um uns langwierigen Denkprozessen zu widmen, Vor- und Nachteile abzuwägen und uns über die Folgen einer Entscheidung tiefgehende Gedanken zu machen.
Reflexionen können mühsam sein, da sie sehr viel eigene Aufmerksamkeit benötigen und unangenehme Emotionen hervorrufen können. Zusätzlich können sie zu tiefgreifenden Selbsterkenntnissen führen, die die Notwendigkeit einer Verhaltensveränderungen aufzeigen.
Eine ausgereifte Selbstreflexionskompetenz ist aber deutlich weniger en vogue als beispielsweise für die Wirtschaftswelt geforderte Kompetenzen wie effiziente Ergebnisorientierung, unternehmerisches Denken oder die Fähigkeit schnelle Entscheidungen treffen zu können.
Zusätzlich können wir uns inzwischen auf Daten und Informationen als Entscheidungsgrundlage verlassen, die uns Google, Apple, Microsoft, Instagram und andere social Media Anbieter tagtäglich zur Verfügung stellten, um ein vermeintlich besseres Leben führen bzw. bessere (Management)Entscheidungen treffen zu können.
Welche Wertigkeit und Nutzen hat die Selbstreflexionskompetenz also heute noch in der Gesellschaft?
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die einleitenden Worte bewusst überspitzt formuliert sind.
Die Digitalisierung und generelle Beschleunigung der Welt bringt auch jede Menge positive Entwicklungen mit sich. Keineswegs soll damit der Eindruck erweckt werden, dass die Gesellschaft auf rein fremd gesteuerte Menschen besteht, ohne jeglichen Grad einer Selbstreflexionskompetenz.
Vielmehr soll damit ein Trend beschrieben werden, auf Basis meiner eigenen Beobachtungen und Erfahrungen im Berufsleben, im Freundeskreis und bei mir selbst.
Die zunehmende Komplexität unserer Lebensprozesse stellt uns häufig vor schwere Entscheidungen und notwendige Veränderungen, die im Rahmen eines Coaching Prozesses bearbeitet werden können.
Das systemische Coaching setzt direkt am Individuum an und stellt dessen Lernprozess, Persönlichkeitsentwicklung und Autonomie ins Zentrum des gesamten Prozesses.
Damit Coaching zielführend und erfolgreich gestaltet werden kann, gilt die Bereitschaft zur Selbstreflexion als Prämisse eines jeden Coaching Prozesses.
Selbstreflexion – eine Begriffsdefinition
Um zu verstehen, woher der Begriff der Selbstreflexion kommt und was er im Kern bedeutet, wird nachfolgend eine Begriffsdefinition vorgenommen.
Selbstreflexion ist eine Zusammenstellung aus den beiden Wörtern „Selbst“ und „Reflexion“.
Während das Wort „Selbst“ den Fokus auf das eigene Ich legt, wird das Wort Reflexion im Alltag dazu verwendet, um einen Prozess des Nachdenkens zu beschreiben.
Nach Siegfried Greif (2008, Coaching und ergebnisorientierte Selbstreflexion) findet eine Selbstreflexion dann statt, wenn die eigenen Vorstellungen und Handlungen durchdacht werden und dabei ein Abgleich zwischen dem realen und idealen Selbstbild vollzogen wird.
Greif verbindet mit dem realen Selbstkonzept alle
[…] bewussten Vorstellungen und Schemata zu wichtigen eigenen Zielen, Bedürfnissen, Merkmalen und Entwicklungspotentialen sowie Regeln und Standards“ (S.34 ff.).
Im idealen Selbstbild hingegen werden Idealvorstellungen den eben genannten Merkmalen gegenübergestellt und somit in das reale Selbstbild als Wunschvorstellung integriert.
Eine wichtige Unterscheidung macht Greif zwischen einer „ergebnisorientierten Selbstreflexion“ und einem unstrukturierten und ziellosen Grübeln.
Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass ergebnisorientiertes Reflektieren mit einer aktiven Beobachtung des eigenen Verhaltens einhergeht, die nicht vor unangenehmen Erkenntnissen Halt macht, sondern einem länger angelegten Prozess des inneren Dialogs folgt und letztlich auch Handlungen zu Veränderung forciert (vgl. 37 f.).
Auch Ruth Seliger (2008, Das Dschungelbuch der Führung) sieht in dem Prozess der Selbstreflexion einen aktiven Part des Handelns. Sie schreibt:
Wer sich selbst beobachtet und dabei die eigenen Muster wahrnimmt, verliert seine Unschuld und erlebt die Vertreibung aus dem Paradies. Erkenntnis verpflichtet. Selbsterkenntnis wirft uns in die Verantwortung für unser Handeln
(S. 134 f.)
Seliger ist zusätzlich der Auffassung, dass Selbstreflexion in einem Spannungsverhältnis von 3 Elementen steht, die während des Prozesses der Reflexion getrennt aber auch kombiniert berücksichtigt werden sollten.
Die Kategorisierung des Selbstbilds, der Privatrolle, der Berufsrolle und der Kombination aus allen Pfeilern verdeutlicht, dass prinzipiell jeder Mensch im Kontext von Selbstreflexionsprozessen steht, vorausgesetzt er ist offen und bereit dazu.
Greif (2008) spricht dabei von einem fest angelegten „Potential“, das abgerufen werden kann, denn
jeder Mensch habe ein Bewusstsein von sich selbst und sei in der Lage das eigene Handeln zu beobachten und über sich selbst nachzudenken (vgl. S. 19)
Dabei differenziert er zwischen einem zielgerichteten Reflexionsprozess, der in der Regel etwas Konkretes bewirken soll, wie beispielsweise die Veränderung des eigenen Verhaltens und einem Prozess des alltäglichen Grübelns ohne erkennbares Ziel.
Nach Tisdale (vgl. Tisdale 1998, S. 12) hat die zielgerichtete Selbstreflektion 3 Kernfunktionen:
-
- Selbstreflexion hilft insbesondere dann das eigene Verhalten zu verändern, wenn bereits verinnerlichte Verhaltensweisen nicht mehr zielführend sind.
- Selbstreflexion unterstützt beim Vergleich des eigenen Denkens und Handelns mit Erfahrungswerten:
Erfahrungswerte werden dabei als gelernte bzw. schon erprobte Denk- und Handlungsabläufe in konkreten Situationen aufgefasst und ein Abgleich mit neuen Situationen unternommen. - Selbstreflexion beeinflusst das zukünftige Denken, Planen und Tun und kann auf Basis bereits gemachter Erfahrungen das eigene Verhalten auf Situationsangemessenheit hin überprüfen und dieses entsprechend anpassen.
Aufgrund der in der Einleitung beschriebenen zunehmenden Dynamisierung unserer Umwelt und der nicht steuerbaren Komplexität, gewinnen Prozesse der Selbstreflexion in jeglichen Bereichen unseres Lebens an Bedeutung.
Doch häufig stellt uns die Komplexität sowie die Beeinflussung und der Druck unserer Außenwelt vor tiefgehende Herausforderungen, die uns blockieren und verzweifeln lassen.
Eine ausgeprägte Kompetenz der Selbstreflexion kann in jenen Phasen dabei helfen, seine Gedanken und Handlungen zu hinterfragen und mittels Alternativmöglichkeiten das Gefühl des Nicht Weiterkommens abzulegen.
Durch zielgerichtete Selbstreflexionsprozesse können so wirkungsvolle Lösungen für verschiedenste Lebenssituationen generiert werden, die eine nachhaltige Veränderung des eigenen Verhaltens und/oder Denkens erzeugen können.
Systemisches Coaching gilt dabei als besonders wertvolles Instrument, um Menschen bei ihren individuellen Herausforderungen des Lebens eine Unterstützung anzubieten.
Im Fokus des Coaching Prozesses steht unter anderem die strukturierte und zielgerichtete Aktivierung der Selbstreflexion beim Klienten, immer unter der Berücksichtigung und Betrachtung der Ganzheitlichkeit der Systeme und deren Einfluss auf unsere Realität.