Abschlussarbeit von P. Kempel, als PDF lesen
Theoretischer Hintergrund
Da ich die verschiedenen Beschreibungen der renommierten Neurowissenschaftlicher Roth & Ryba (2016, 2019)2,3,4 zu den Erkenntnissen der Neurowissenschaften und Psychologie extrem kompakt, fundiert und gut verständlich finde, sind die folgenden theoretischen Grundlagen aus diesen Werken übernommen und teilweise direkt zitiert (dies wird deutlich gemacht).
Grundsätzlich lässt sich gemäß neueren neurowissenschaftlichen Erkenntnissen festhalten, dass die Vorstellung, dass vor allem unsere oberste bewusste Kontrollinstanz maßgeblich für unser Denken, Fühlen und Verhalten verantwortlich ist und hirnanatomisch und -funktionell in neokortikalen Strukturen, vor allem dem präfrontalen Kortex angesiedelt, ist, nicht nur stark vereinfacht, sondern auch in dieser Form nicht korrekt gedacht ist.
Das bedeutet gleichzeitig, dass Methoden und Konzepte, auch im Coaching, die vor allem auf Selbstreflektion aufbauen, gegebenfalls weit weniger nachhaltige Veränderung bewirken können, als angenommen.
Auch das sogenannte Unbewusste und Vorbewusste muss einbezogen werden. Eine sehr wirkungsvolle Weise, dies auch im Coaching zu tun besteht im bewussten Einbezug des Körpers. Das heißt natürlich nicht, dass bewusste Prozesse unwichtig sind und es heißt auch nicht, dass Coaching vor allem körperzentriert und nicht kognitivbehavioral angelegt sein kann. Es meint einfach, dass
der Körper wunderbar einfach einen Zugang zum Unbewussten ermöglicht.
Um dies zu veranschaulichen, folgt eine Erläuterung, was mit Unbewusstem, Vorbewusstem und Bewusstsein neurowissenschaftlich und psychologisch gemeint ist.
Das Bewusstsein
Um trotz der Fülle an permanenten Informationen handlungsfähig zu bleiben, neigt unser Gehirn zu Automatisierung. Bewusstsein ist aufgrund begrenzter Kapazität und hohen Aufwandes nur für besondere Funktionen reserviert.
Stark vereinfachte – jedoch stimmige und hilfreiche – Darstellungen beinhalten die Veranschaulichung anhand von Zwei-Prozess Modellen.
Dies meint, es gibt ein System für kontrollierte Verarbeitung, dieses ist langsam, abgewogen, unterliegt der willentlichen Kontrolle und benötigt enorme kognitive Ressourcen und ein System für die automatische Verarbeitung, das sehr schnell, spontan, „impulsiv“ ist und wenig kognitiven Aufwand/Ressourcen erfordert. Dieses System ist deutlich schneller (LeDoux 20035 ). Kahnemann (2012) 6 nennt sie System 1 und System 2 und beschreibt dies in seinem populärwissenschaftlichen Bestseller Schnelles Denken, langsames Denken 6.
Dies impliziert unter anderem auch, dass wir in anderen Menschen Emotionen auslösen, noch bevor wir uns dessen teilweise bewusst sind.
Die folgenden Abschnitte zum Bewusstsein, Vorbewusstem und Unbewusstem inklusive Tabellen wurden wortwörtlich aus Ryba (2019)7 entnommen, werden also zitiert, da ich sie verständlich finde und etwaige Umschreibungen keinen Zusatznutzen bringen würden:
„Der „Strom des Bewusstseins“ wird wesentlich durch das Arbeitsgedächtnis ermöglicht (Roth und Strüber 20188 , zitiert nach Ryba, 2019 7). Dieses wird teils im vorderen und teils im hinteren Cortex lokalisiert. Es hält Teile der Wahrnehmung und damit verbundene Gedächtnisinhalte für einige Sekunden im Bewusstsein. Aktuell bewusste Zustände des Erlebens können mit unterschiedlichen Inhalten verbunden sein (Tabelle 1).
Tabelle 1: Bewusste Erlebnisinhalte (nach Roth und Ryba 20169, S. 189 f., entnommen aus Ryba, 201910)
Die Großhirnrinde verfügt über assoziative, sensorische und motorische Areale. Damit bedeutungshafte Wahrnehmungsinhalte und mentale Zustände (wie etwa Denken, Vorstellen und Erinnern) bewusst werden, müssen die assoziativen Areale der Großhirnrinde aktiv sein (Roth und Strüber 201811, zitiert nach Ryba (2019)12).
Der Thalamus wird als das „Tor zum Bewusstsein“ bezeichnet, weil er mit der Großhirnrinde über auf- und absteigende Bahnen verbunden ist (Walter und Müller 201212, zitiert nach Ryba (2019)12).
Reize werden zunächst unbewusst in Zentren außerhalb der Großhirnrinde verarbeitet. Sie gelangen dann zu den sensorischen Arealen des Cortex und sind auch hier noch unbewusst (Roth 200413, zitiert nach Ryba (2019)12).
Nur ein unbekannter und potenziell wichtiger Reiz gelangt zur detaillierten Verarbeitung in das Bewusstsein
(Roth und Strüber 201814,)
In den assoziativen Arealen, in denen sich das deklarative Gedächtnis befindet, trifft der Reiz auf kognitive und emotionale Gedächtnisinhalte (Roth 200415). Dadurch wird ein bedeutungshafter Zustand hergestellt. Bewusstsein dient also zur Verarbeitung neuer, wichtiger und bedeutungshafter Informationen (Roth und Strüber 201816).
Unser Bewusstsein kann dies jedoch selbst natürlich „nicht erkennen“, sondern für unser Bewusstsein sind die Teile, die dem Bewusstsein bewusst werden, natürlich die Inhalte, die unser Denken, Fühlen und Verhalten ausmachen bzw. steuern.
Die enorme Fülle an anderen Informationen und körperlichen sowie subkortikalen Reaktionen bleibt dem Bewusstsein unzugänglich und ist für dieses somit „nicht relevant“. Über dieses Leib-SeeleProblem wurde und wird in der Philosophie schon seit Hunderten von Jahren diskutiert.
Das Vorbewusste
Das Vorbewusste ist weitgehend identisch mit dem deklarativen bzw. expliziten Langzeitgedächtnis, wie Tab. 2 zeigt (Roth und Strüber 201816). Seine Inhalte waren dementsprechend einmal bewusst und können zumindest im Prinzip durch Erinnerung ins Bewusstsein gerufen und in der Regel sprachlich wiedergegeben werden.
Wie gut etwas erinnerbar ist, hängt von der Art seiner Verankerung im Langzeitgedächtnis ab.
Manche Inhalte sind allerdings aus unterschiedlichen Gründen wie zu kurze Wahrnehmungszeit, mangelnde Bedeutung, mangelnde Vernetzung oder aktive bzw. passive Verdrängung so tief „abgesunken“, dass sie nicht mehr aus eigener Kraft erinnerbar sind, sondern höchstens mit fremder Hilfe. Roth und Ryba (201616) nennen diese Inhalte das „tiefe Vorbewusste“. Die Zusammenhänge werden in Tabelle 2 beschrieben.
Tabelle 2: Vorbewusste Inhalte (nach Roth und Ryba 201618, S. 191)
Das Unbewusste
Aus neurobiologischer Sicht sind alle subcorticalen Hirnvorgänge also solche, die außerhalb der Großhirnrinde ablaufen, unbewusst (Roth und Ryba 2016). Es gibt jedoch auch viele Prozesse innerhalb der Großhirnrinde, insbesondere in den sensorischen und motorischen Arealen, die ebenfalls unbewusst stattfinden.
Unterschieden wird zwischen dem primär Unbewussten und dem sekundär Unbewussten.
Bei ersterem handelt es sich um Inhalte, die niemals bewusst waren, bei Letzteren um Inhalte, die vermutlich bewusst waren, aber nicht erinnerungsfähig sind. Dazu gehören Inhalte, die ein Kleinkind in den ersten drei Lebensjahren bewusst erlebte, die aber später nicht erinnerbar sind, weil es noch kein leistungsfähiges deklaratives Langzeitgedächtnis entwickelt hat. Freud nannte diese Periode „infantile Amnesie“. Tabelle 3 gibt einen Überblick hierzu.
Tabelle 3: Primär und sekundär unbewusste Inhalte (nach Roth und Ryba 2016, S. 187)
Wie kann ein körperzentriertes Coaching aussehen?
Über den Körper kommt der Klient mit seinem Unbewussten in Kontakt.
So können eigene Erlebens- und Verhaltensmuster wahrgenommen und erkannt und somit einer Veränderung zugänglich gemacht werden. Es wird möglich das „Thema hinter dem Thema“ kennenzulernen und somit eine mit dem Unbewussten stimmige und somit tragfähige Zielklärung zu erreichen.
Weiterhin gibt die Wahrnehmung kleiner ggf. unwillkürlicher (also unwillentlicher) Veränderungen im körperlichen Zustand des Klienten (Veränderung Pupillengröße u.ä.) dem Coach Hinweise auf wichtige Stimuli (Reize), die dem Klienten selbst ggf. nicht bewusst sind. Somit liefert alleine die Spiegelung solcher Veränderungen wichtige Informationen für den Coachee.
Insbesondere, wenn die körpersprachlichen unwillkürlichen Signale inkongruent/inkonsistent zum verbalen Inhalt einer Nachricht sind. So gibt ein Coachee beispielsweise an „Ich mag meinen Job wirklich gern“, kratzt sich dabei stark am Arm, beginnt mit den Füßen zu wippen, zuckt mit dem Augenlid und hört kurz auf zu atmen.
Diese Signale sollte man nicht überinterpretieren, aber zumindest können Sie ein Hinweis darauf sein, dass der Körper „weiß“ und angeben kann, was der Coachee rational (noch) nicht denken und/oder sagen kann.
Ich bin ein absoluter Gegner davon, Körpersprache unsachgemäß und übergeneralisiert zu interpretieren.
Weiterhin sind die oben genannten Reaktionen teilweise auch Reaktionen, die man bewusst, willentlich und willkürlich zeigen kann. Nichtsdestotrotz können diese Inkongruenzen eine wichtige Ressource im Coaching für den Coach darstellen.
2 Roth, G., & Ryba, A. (2016). Coaching, Beratung und Gehirn. Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte. Stuttgart: Klett-Cotta.
3 Roth, G. & Ryba, A. (2019). Die Grundlagen des integrativen, neurobiologisch fundierten Coaching. In A. Ryba & G. Roth (Hrsg.), Coaching und Beratung in der Praxis. Ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell (Fachbuch Klett-Cotta, S.485– 512). Stuttgart: Klett-Cotta.
4 Ryba, A. (2019). Körperzentriertes Coaching und der Zugang zum Unbewussten. Organisationsberatung, Supervision & Coaching 26, 313–329 (2019). https://doi.org/10.1007/s11613-019-00610-1
5 LeDoux, J. E. (2003). Synaptic self. How our brains become who we are. New York: Penguin.
6 Kahneman, D. (2012). Schnelles Denken, Langsames Denken. Siedler Verlag, München, , aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt, 27. Juni 2012, ISBN 978-3-88680-886-1
7 Ryba, A. (2019). Körperzentriertes Coaching und der Zugang zum Unbewussten. Organisationsberatung, Supervision & Coaching 26, 313–329 (2019). https://doi.org/10.1007/s11613-019-00610-1
8 Roth, G., & Strüber, N. (2018). Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart: Klett-Cotta.
9 Roth, G., & Ryba, A. (2016). Coaching, Beratung und Gehirn. Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte. Stuttgart: Klett-Cotta.
10 Ryba, A. (2019). Körperzentriertes Coaching und der Zugang zum Unbewussten. Organisationsberatung, Supervision & Coaching 26, 313–329 (2019). https://doi.org/10.1007/s11613-019-00610-1
11 Roth, G., & Strüber, N. (2018). Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart: Klett-Cotta.
12 Walter, H., & Müller, S. (2012). Neuronale Grundlagen des Bewusstseins. In H.-O. Karnath & P. Thier (Hrsg.), Kognitive Neurowissenschaften (3. Aufl. S. 655–664). Berlin, Heidelberg: Springer.
13 Roth, G. (2004). Das Verhältnis von bewusster und unbewusster Verhaltenssteuerung. Psychotherapie Forum, 12, 59–70.
14 Roth, G., & Strüber, N. (2018). Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart: Klett-Cotta.
15 Roth, G. (2004). Das Verhältnis von bewusster und unbewusster Verhaltenssteuerung. Psychotherapie Forum, 12, 59–70.
16 Roth, G., & Ryba, A. (2016). Coaching, Beratung und Gehirn. Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte. Stuttgart: Klett-Cotta.
17 Chartrand. T. L.. & Bargh, J. A. (1999). The chameleon effect: The perception behavior link and social interaction. Journal of Personality and Social Psychology. 76. 893-910.