auf Basis der Polyvagal-Theorie
Abschlussarbeit von Judith Rosarius, als PDF lesen
Einführung
In der Coachingausbildung wird eine systemische und konstruktivistische Weltsicht gelehrt. Systemisch beschreibt hierbei die Annahme, dass jede Form der sozialen Organisation von Menschen ein eigenes, komplexes System bildet (z.B. Familie, Organisation, Freundschaften, etc.). Aufgrund der Komplexität der Verbindungen gibt es keine klaren Ursache-Wirkungszusammenhänge mehr, sondern es entstehen Wechselwirkungen, die es im Coachingprozess zu beachten gilt. Der konstruktivistische Ansatz geht davon aus, dass jedes Individuum seine ganz eigene Wahrnehmung (gerne die „eigene Insel“ genannt) besitzt und seine individuelle Wirklichkeit selbst erzeugt (vgl. Autopoiesis).
Ziel des Systemischen Coachings ist es, dem Klienten (oder Klientengruppen) den Zugang zu bereits vorhandenen, inneren und äußeren Ressourcen zu erleichtern um somit die Selbstwirksamkeit zu steigern.
Ein zweites Feld, das einen wichtigen Baustein für diese Arbeit liefert, ist die Hirnforschung und die damit verbundenen Kenntnisse über die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche. Der Einfluss der Psyche (also das kognitive Denken) auf Körper, Emotionen und Verhalten ist weitestgehend anerkannt. Stark vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen, positive Gedanken führen zu positiven Gefühlen, das wiederum führt zu positivem Verhalten, usw. Ausgegangen wird hierbei von einer Wirkkette mit Richtung vom Kopf in den Körper. Neue Erkenntnisse beschreiben jedoch auch die entgegengesetzte Richtung der Wirkkette, nämlich die Einwirkung des Körpers auf den die Psyche. Auf Basis dieser Erkenntnis entwickele sich z.B. das Coaching-Feld des „Embodiments“, welches durch Köperinterventionen Klienten dabei unterstützt einen guten Zustand zu erreichen, aus denen sie sich handlungsfähiger fühlen.
Was ist die Polyvagal-Theorie?
Bei der Polyvagal-Theorie handelt es sich um eine Neubeschreibung der Funktionsweise des autonomen Nervensystems. Ursprünglich wurde das autonome Nervensystem als Steuerelement von Körperreaktionen in zwei Richtungen beschrieben. Zum einen in die sympathische Stress-Reaktion, die einsetzt, wenn Leistung und Anstrengung gefordert ist. Zum anderen in die parasympathische Entspannungsreaktion, die den Zustand der Erholung und Regeneration hervorruft. Beide Richtungen wirken antagonistisch, sodass wenn ein Teil aktiv ist, der andere gehemmt wird.
Der Vagus-Nerv wurde hierbei hauptsächlich mit der parasympathischen Entspannungsreaktion in Verbindung gebracht.
Die Polyvagal-Theorie (von griechisch poly für „viele“ und Vagus für Hirnnerv) wurde von Dr. phil. Stephen W. Porges beschrieben. Seine Forschung brachte neue Erkenntnisse bezüglich der Struktur des Vagus-Nervs und darüber, bei welchen Körperreaktionen diese Teile involviert sind. Demnach besteht der Vagus-Nerv aus drei Teilen, welche, wenn aktiviert, sympathische als auch parasympathische Reaktionen auslösen.
Diese drei Teile sind:
-
- der hintere Ast des Vagus (älterer Strang)
- der sympathischen Grenzstrang
- der vordere Ast des Vagus (jüngerer Strang)
Laut Porges ist der vordere Ast des Vagus für soziale Engagement, Zugewandtheit und Kommunikation zuständig und hat sich in der Evolution des Nervensystems nach dem hinteren Teil entwickelt (sog. Reptilienteil), welcher auf das Überleben in lebensgefährdenden Situationen spezialisiert ist.
Der Hintere Ast des Vagus
Der hintere Ast des Vagus wird hauptsächlich mit seiner Funktion der „Stilllegung bzw. Erstarren“ des Körpers in Verbindung gebracht. Auch dies ist ein neuer Aspekt, der mit dem polyvagal-theoretischen Ansatz erklärbar wird. Die zuvor gültige Annahme, dass das Nervensystem aus der reinen Aufteilung in Stress- und Entspannungsreaktion bestünde, konnten solche Zustände nicht erklären.
Aus evolutionsbiologischer Sicht stellt die Funktion der „Stilllegung bzw. Erstarren“ eine sinnvolle Kompetenz dar. Diese Kompetenz kann z.B. einem Menschen das Leben retten, wenn er einem Bären begegnet und sich bewegungslos auf dem Boden zusammen kauert. Die Chance besteht, dass der Bär – als passionierter Nicht-Aasfresser – dieses Mal auf sein Mal verzichtet.
Diese Funktion des hinteren Vagus, die Körperfunktionen (bei akuter Gefahr) auf ein Minimum herabzufahren, erklärt u.a. warum einige Menschen in ihrem als stressig und beängstigend erlebten Alltag keine Handlungsmöglichkeiten mehr sehen und sozusagen „erstarren“. Teilweise fehlt ihnen die Energie aus dem Bett auszusteigen. Das Nervensystem reagiert hierbei auf einen als lebensbedrohlich wahrgenommenen Kontext und verhält sich demnach sinnvoll.
Der Sympathische Grenzstrang
Der sympathische Grenzstrang wird laut der Polyvagal-Theorie als Auslöser der Kampf- bzw. Fluchtreaktion auf einen Stressor gesehen. Genau wie das Erstarren eine Kompetenz aus evolutionsbiologischer Sicht ist, so ist auch die akute Bereitstellung von Energie eine Überlebenskompetenz. Kommt es z.B. in der Savanne zu einer Situation des Kampfes bzw. der Flucht so sind alle körperlichen Reaktionen, die dieses Vorhaben unterstützen sinnvoll.
Der Blutdruck steigt, die Herzfrequenz erhöht sich, die Bronchien erweitern sich, die Atmung wird schneller, die Leber setzt zusätzlich Zucker als schnelle Energiequelle frei, usw.
Alles steht bereit für eine schnelle Reaktion um sich aus der Situation zu befreien.
Auch in unserem heutigen Alltag kann sich diese effiziente und schnelle Energiebereitstellung als überlebenswichtig auswirken z.B., wenn man vor einem heranfahrenden Auto wegspringt.
Im Idealfall wird die Aktivierung des sympathischen Grenzstrangs zurückgefahren, sobald die Gefahr vorüber ist und das Nervensystem erlangt wieder den Zustand von Ruhe und Gelassenheit. Kommt es zu einer chronischen Aktivierung des sympathischen Grenzstranges, kann das die körperliche und seelische Gesundheit stark beeinträchtigen.
Der Vordere Ast des Vagus
Der vordere Vagus-Ast hat sich entwickelt, als soziales Verhalten eine wichtige Überlebenskompetenz neben den Kampf-, Flucht- und Erstarrenskompetenzen wurde. Er wird vor allem in Situationen gefühlter Sicherheit aktiv. Laut Porges sind
Menschen (wie auch andere Säugetiere) in einem wünschenswerten Zustand der sozialen Zugewandtheit und Kommunikation
wenn der vordere Ast richtig arbeitet. Dies geschieht ganz automatisch in einem Kontext der Sicherheit und Abwesenheit von Bedrohung von außen. Der vordere Vagus-Ast fördert ein Erleben von Ruhe und Gelassenheit und schafft die physiologischen Voraussetzungen für eine optimale körperliche und see- lische Gesundheit. Ein aktivierter vorderer Vagus-Ast fördert darüber hinaus, neue Situationen mit mehr Offenheit, Vertrauen und positiven Erwartungen anzugehen. Damit einher geht ein verbesserter Zugang zur Neugier und Kreativität. Aufgrund der positiven Auswirkungen des vorderen Vagus-Astes auf die gefühlte Übersicht und Handlungsspielräume, wird er auch der „smarte“ Teil des Vagus genannt.
Ein aktiver vorderer Vagus-Ast wirkt sich auf die Wahrnehmung über alle Sinne aus (Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken). Das Ohr nimmt u.a. andere Frequenzen wahr, so dass die Stimmen anderer Personen als angenehmer eingeschätzt werden. Es fällt Probanden einfacher Gesichter als freundlich zu kategorisieren und Gesagtes nicht als persönliche Kritik einzuschätzen. Der Körper geht in einen Entspannungsmodus, in dem er den Muskeltonus sowie Herzfrequenz und Blutdruck senkt. Soziale Kontaktaufnahme, Zuhören und Kommunikationskompetenzen sind aus diesem Zustand der Ruhe und Sicherheit zugänglicher und für Interaktionen nutzbar.
Wie kann die Polyvagal-Theorie helfen in einen guten Zustand zu kommen?
Ein guter Zustand von Kommunikation und sozialem Engagement und Zugewandtheit fördert einen konstruktiven Umgang mit Situationen und Herausforderungen.
Laut der Polyvagal-Theorie ist hierfür hauptsächlich der vordere Ast des Vagus-Nervs zuständig.
Auf dieser Erkenntnis baut die Arbeit des amerikanischen Autors und Körpertherapeuten Stanley Rosenberg auf. Er entwickelt Körperübungen, die die Funktion des vorderen Astes verbessern. In seinem Buch „Der Selbstheilungsnerv – So bringt der Vagus-Nerv Körper und Psyche ins Gleichgewicht“ erläutert er Methoden zur Überprüfung und Wiederherstellung der Funktion des vorderen Vagus-Astes. Diese Übungen benötigen keine besondere körperliche Voraussetzung und können von jedermann eingesetzt werden, um das eigene Nervensystem positiv zu beeinflussen und somit mehr Handlungsoptionen für soziale Interaktionen zur Verfügung zu haben.
In der systemischen Arbeit wird der Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen den Elementen in einem System gelegt. Auch bei der Arbeit mit dem autonomen Nervensystem lässt sich ein solcher Effekt nutzen. Die sogenannte Ko-Regulation besagt, dass sich die Nervensysteme verschiedener Menschen gegenseitig beeinflussen und regulieren können.
Das bedeutet, dass ein Mensch mit einem aktiven vorderen Vagus-Ast, der sich in einem Zustand von Sicherheit und sozialer Zugewandtheit befindet, auch anderen dabei hilft ihren vorderen Vagus-Ast zu aktivieren.
Besonders spüren lässt sich dieser Effekt im Alltag z.B., wenn man in einer schwierigen Situation von einer regulierten Person in den Arm genommen wird oder Kontakt mit einem Tier hat (z.B. Katze oder Hund), das sich ganz ruhig und gelassen verhält. In dieser Situation wird das eigenen Nervensystem sozusagen von außen positiv beeinflusst und ko-reguliert.
Dieser Effekt funktioniert jedoch auch in die entgegengesetzte Richtung, so dass ein Mensch mit einem aktivierten sympathischen Grenzstrang auch anderen das Sicherheitsgefühl nehmen kann und somit ihre Kampf- und Fluchtmechanismen aktiviert.
Aus diesem Grund, kann es für den Coaching Prozess bedeutend sein, dass zum einen der Coach selber sein Nervensystem bestmöglich in einen guten Zustand bringt und somit die Wahrscheinlichkeit erhört einen positiven Effekt auf das Nervensystem des Klienten zu haben. Zum anderen kann der Coach durch gezielte Körperinterventionen dem Klienten dabei helfen sein Nervensystem selbst zu regulieren und in einen guten Zustand der sozialen Zugewandtheit zurückzukehren. Darüber hinaus kann der Klient diese Übungen für sich mitnehmen und in seinen Alltag nach eigenem Bedarf z.B. vor herausfordernden Situationen nutzen. Damit wird die Selbstwirksamkeit des Klienten nachhaltig verbessert.