Kollegiale Fallberatung
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Einleitung
Im November 2020 ergab sich in meinem Unternehmen für mich die Chance, eine kollegiale Fallberatung durchzuführen.
Die Konzernabteilung Change Lab hatte mich in meiner Funktion als Chance Manager zu einem Barcamp* eingeladen, wo ich vor insgesamt 120 Teilnehmer*innen den Vorschlag einbrachte, eine kollegiale Fallberatung zu moderieren.
Mein Vorschlag stieß auf großes Interesse, fand einen spontanen Fallgeber und wurde im Rahmen eines 60-minütigen Workshops mit insgesamt 17 Personen durchgeführt.
Im Nachgang führte ich mit dem Fallgeber ein Feedbackgespräch, welches ergab, dass er zu einem konkreten Teilaspekt noch ergänzenden Gesprächsbedarf hatte.
Wir vereinbarten daraufhin ein bilaterales Treffen, in dem wir die offenen Fragen klären wollten, was uns eine Woche später in einem 90-minütigen Coaching-Gespräch mit Erfolg gelang.
Kollegiale Fallberatung
Das Barcamp
Das Barcamp, zu dem mein Unternehmen erstmals 120 Personen eingeladen hatte, war an Teilnehmer aus allen Funktionsbereichen des gesamten Konzerns gerichtet.
Das Ziel und die gemeinsame Schnittstelle waren die Idee, neue Formate der Kommunikation, der Zusammenarbeit und der Lösungserarbeitung kennenzulernen, um mehr Verantwortungsbereitschaft bei den Mitarbeiter*innen zu erreichen und schnellere Lösungsansätze erarbeiten zu können.
Formate wie dieses Barcamp sollten den konzernweiten Kulturwandel fördern.
Die Moderatorin
Dem Aufruf des Head of Change Lab, eigene Ideen in das Barcamp einzubringen, folgte ich zu Beginn der Veranstaltung mit dem Vorschlag, eine kollegiale Fallberatung zu moderieren, die ich als Instrument im Rahmen meiner Ausbildung bei InKonstellation kennengelernt hatte.
Ich bot einer/m Kollegin/Kollegen an, ein konkretes Problem vorzustellen und anschließend im Rahmen des von mir moderierten Prozesses mit dem Team nach Betrachtungsweisen zu suchen, die zur Lösung des Problems führen können.
Zu diesem Zeitpunkt war ich seit ca. 5 Jahren im Konzern beschäftigt.
Ich kannte einige Kolleg*innen aus anderen Zusammenhängen, auf Grund der Größe des Konzerns traf ich allerdings ca. 90 % der Personen hier zum ersten Mal.
Im Rahmen der nachfolgenden kollegialen Fallberatung war meine Aufgabe als Moderatorin im Wesentlichen darauf beschränkt, die Prozessschritte zu erläutern und auf deren Einhaltung sowie auch auf die Einhaltung der Zeitvorgaben zu achten.
Der Fallgeber
Spontan meldete sich ein Kollege (53 J.) mit einem akuten Anliegen.
Er sei mit einem Projekt beauftragt worden, das in einer Sackgasse angekommen sei.
Ihm fehle jegliche Idee, wo er ansetzen solle, um das Projekt noch erfolgreich abzuschließen bzw. welche Fragen er stellen müsse, um herauszufinden, wo das Problem liege.
Das kollegiale Team
Es meldeten sich 16 Teilnehmer*innen zum Workshop „kollegiale Fallberatung“ an.
Sie kamen aus den Abteilungen IT, HR, Tax, Sales, Purchasing, Production und Marketing von insgesamt fünf verschiedenen Konzernunternehmen und waren 28 – 56 Jahre alt.
Die Vorstellung des Falles
Nach einer kurzen Einführung schilderte der Fallgeber seinen Fall bzw. sein Problem (etwa 15 Min.) wie folgt:
Ich bin seit 7 Monaten in der meiner Abteilung beschäftigt. Mein Chef hat mich mit dem Projekt „Job Rotation“ beauftragt.
und weiter:
„Es geht darum, einen Prozess aufzusetzen, der es ermöglicht, Mitarbeiter*innen unter bestimmten Voraussetzungen versetzen zu können, z. B. wenn sie eine compliance-relevante Stelle innehaben. Die Voraussetzungen für eine solche Versetzung sind definiert und mit den Fachbereichen kommuniziert worden.
Einige Fachbereiche wehren sich jedoch vehement gegen die Einführung eines solchen Jobrotation-Prozesses. Sie blockieren das Projekt und gehen in die offene Konfrontation.
Es hat sich außerdem herausgestellt, dass die Abteilung HR bereits vor 3 Jahren versucht hat, das Thema „job rotation“ aus Personalsicht einzuführen. Wie ich erfuhr, ist man dort damals aus denselben Gründen gescheitert wie jetzt ich.
Mein Chef ist für die Einwände nicht empfänglich, er erwartet, dass ich Ergebnisse liefere. Dies ist jedoch unter den gegebenen Umständen unmöglich.
Ich weiß mir keinen Rat mehr.“
Die Fragen-Runde
In den folgenden 10 Minuten stellten die Teammitglieder folgende Fragen zum Verständnis des Falles:
Teammitglied: „Gibt es einen Projektplan und wenn ja, mit wem wurde er abgestimmt?“
Fallgeber: „Ja, er wurde mit meinem Chef und dessen Chef abgestimmt; jetzt im Nachgang sollen alle relevanten Abteilungen eingebunden werden.“
T: „Geht dein Chef mit dir gemeinsam zu den Teambesprechungen?“
F: „Nein, er lässt sich die Ergebnisse aber von mir berichten.“
T: „Wer leitet das Projekt?“
F: „Nach Absprache mit meinem Chef soll ich das Projekt angeblich leiten, allerdings stimmt er sich mit seinem Chef regelmäßig bilateral ab, ohne mich einzubinden. Er lässt mich auch keine Entscheidungen treffen, sondern macht mir konkrete Vorgaben, wie ich als nächstes vorgehen soll.“
T: „Wie alt ist dein Chef?“
F: „Mein Chef ist 12 Jahre jünger als ich und hat bisher wenig Führungserfahrung. Unser Team besteht derzeit aus 4 Mitarbeiter*innen.“
T: „Wie viele Kritiker stimmen gegen das Projekt?“
F: „Wesentliche Teile der Abteilung HR (mittleres Management) sowie Teile der Produktion sind dagegen. Die Gründe erscheinen mir zum Teil plausibel.
In jedem Fall aber ist der Widerstand so groß, dass es auf einen Machtkampf hinausläuft, welche Interessen hier den Vorrang haben.“
Die Hypothesen-Runde
In der folgenden Hypothesen-Runde (10 Minuten) diskutierten die Teammitglieder ihre Annahmen und Vermutungen. Der Fallgeber hörte ausschließlich zu. Er stellte weder Fragen noch diskutierte er die Beiträge mit dem Team.
Folgende Hypothesen wurden u. a. von Seiten des Teams geäußert:
• Der Projektplan ist nicht mit allen relevanten Abteilungen abgestimmt.
• Das Projektziel ist unklar.
• Die Frage der Projektleitung ist ungeklärt.
• Die Zusammenarbeit zwischen dem Fallgeber und seinem Chef ist gestört.
• Dem Chef des Fallgebers fehlen wesentliche, erforderliche Informationen.
• Der Chef des Fallgebers kann oder will die neuen Informationen nicht einordnen; ggf. hat er Angst, dass das Projekt nach den aktuellen Erkenntnissen scheitern wird.
• Der Chef des Fallgebers hat Angst sein Gesicht zu verlieren und weiß keine andere Lösung, als dem Fallgeber mehr Druck zu machen (performance!).
Die Resonanz des Fallgebers
Der Fallgeber gab den Teammitgliedern das Feedback (ca. 5 Min.), dass viele der geäußerten Hypothesen für ihn hilfreich waren.
Auf meine Nachfrage, welche Annahmen ihm besonders zutreffend vorkamen, teilt er mit, dass ihm insbesondere die unklare Steuerung des Projekts bzw. die nicht eindeutig festgelegte Verantwortung für das Projekt offenbar wurde.
Das schien ihm der Kern des Problems zu sein.
Außerdem kam es ihm wahrscheinlich vor, dass sein Chef Angst vor einem Scheitern des Projekts hat, da er als Führungskraft dafür verantwortlich gemacht werden könnte.
Auf meine Nachfrage, an welchem Thema er weiterarbeiten möchte, entschied sich der Fallgeber, die Frage der zielführenden Projektsteuerung weiterbesprechen zu wollen
Die Lösungsideen
In den nachfolgenden 15 Minuten entwickelten die Teammitglieder Lösungsideen, während der Fallgeber wiederum ausschließlich zuhörte und sich nicht am Gedankenaustausch beteiligte.
Folgende Lösungsideen wurden erarbeitet:
• Der Fallgeber soll die Frage stellen, ob das Ziel auch mit anderen Maßnahmen erreicht werden kann, als mit der Methode „job rotation“.
• Der Fallgeber soll eine mögliche Fortsetzung des Projekts mit einem der positiv eingestellten Projektbeteiligten diskutieren.
• Der Fallgeber soll klären, welche Interessen existieren und wie sie miteinander korrespondieren bzw. zueinander im Wettbewerb stehen.
• Der Fallgeber soll seine Rolle als Projektleiter und die Rolle seines Chefs in dem Projekt klären
Das Feedback des Fallgebers
In der abschließenden Sequenz (ca. 5 Min.) bedankte sich der Fallgeber für die hervorragenden Ideen, von denen er manches verwenden wollte.
Er gab zu verstehen, dass er in einem nächsten Schritt den Rat eines erfahrenden Kollegen aus HR einholen und Argumente für eine Änderung des Projektplans erarbeiten wollte, um die Ergebnisse seinem Chef vorzustellen.
Seine erklärte Absicht war es, dabei auch das Interesse seines Chefs zu berücksichtigen, als Führungskraft gut dazustehen.
*Barcamp bezeichnet eine Tagung mit offenen Workshops, deren Inhalte von den Teilnehmer*innen zu Beginn selbst entwickelt und im weiteren Verlauf gestaltet werden (auch Unkonferenz, Nichtkonferenz oder Ad-hocKonferenz genannt)