systemisches Arbeiten
und seine Grenzen an Bord eines Kreuzfahrtschiffes
Abschlussarbeit als PDF lesen
Einleitung
Im Folgenden wird die Arbeit des systemischen Coachings an Bord eines Kreuzfahrtschiffes und die damit einhergehenden Herausforderungen im gleichen System zu leben und arbeiten beschrieben. Ich bin als Trainerin an Bord eines Kreuzfahrtschiffes tätig und arbeite in diesem Umfeld mit meinen Klienten. Die Klienten befinden sich also im gleichen System wie ich und bringen häufig Problemstellungen aus diesem System mit. Meine primäre Tätigkeit ist es die Crew an Bord in Sprach-, Softskill-, und Führungsthemen zu begleiten. Die Kreation, Durchführung und Nachbearbeitung von Gruppen- und Einzeltrainings bilden also die Hauptaufgabe meiner Tätigkeit. Trainer sind an Bord ein anerkannter Sparringspartner / Begleiter, der gerne gefragt ist. Einige Trainerkollegen besitzen eine Coachingzertifizierung und nehmen so auch Aufträge an Bord für Einzel- oder Gruppencoachings entgegen. Häufig entsteht hier die Problematik, dass die Auftraggeber, in dem Fall Fachabteilungsleiter oder Fachbereichsleiter eine Art „Wunderheilung“ erwarten und eine kausale Problem-Lösungsstrategie. Dass wir so aber im systemischen Coaching nicht arbeiten, sondern immer auch das ganze System betrachten, den Klienten in seinem Prozess nur begleiten und keine Lösung vorgeben, ist oft unklar. Diese und weitere Herausforderungen in unserer besonderen Rolle werde ich im Folgenden beschreiben und weise in aller Deutlichkeit darauf hin, dass dies keine wissenschaftliche Arbeit darstellt, sondern allein auf meinen Beobachtungen und Erfahrungen beruht.
Beispiel Teil 1
In einem meiner Einsätze bereiteten wir eines der Schiffe aus der Flotte auf den Neustart nach der Covid-1 9 Pandemie vor. Meine Hauptaufgabe als Trainerin war es hier Teambuildingschulungen, Deutschkurse und Führungskräftetrainings anzubieten und zu kreieren. Wie in vielen Unternehmen hatten sich zu diesem Zeitpunkt wegen der Pandemie einige Tätigkeiten an Bord stark verändert. Ein Crewmitglied aus dem Gästebereich bat mich in diesem Zusammenhang um ein Einzelgespräch. Sie arbeitete nun schon seit 5 Jahren für das Unternehmen, könne aber mit den jetzigen Einschränkungen ihren „heißgeliebten Job“ nicht mehr so ausführen, wie gewohnt und spiele nun seit einiger Zeit mit dem Gedanken das Unternehmen zu verlassen. Zunächst klärte ich meine Rolle in dem Gespräch und fragte nach, ob sie mich als Kollegin, als Privatperson oder als Coach aufsuche. Diese Frage ist in meiner Situation eine der Wichtigsten. Nachdem das Rollenverständnis Coach und Klient geklärt war und ich dem Crewmitglied erklärte, wie ich in der Rolle des systemischen Coaches arbeite und mich explizit von der Beratung abgrenzte, konnten wir die Auftragsklärung beleuchten. (Fortsetzung folgt)
Grundprinzipien des Coachings
Einige Grundprinzipien des Coachings sind in meiner speziellen Situation herausfordernder als andere. Ich möchte einige davon gerne beleuchten:
– Respekt und Wertschätzung
Da dieses Prinzip das Fundament für eine erfolgreiche Zusammenarbeit darstellt, muss ich als Coach im eigenen System noch mehr Wert darauflegen, die beschriebene Situation oder das Verhalten meines Klienten nicht zu bewerten. Häufig sind mir Klienten nah und ich habe während meiner Freizeit an Bord einen freundschaftlichen Kontakt zu ihnen aufgebaut und kenne womöglich Hintergründe, die ich weder bewerten, abwerten noch moralisieren darf. Eine weitere Problematik ist die Hierarchie an Bord in diesem Zusammenhang. Hierarchisch niedrig gestellte Klienten erwarten häufig aus Respekt vor meiner Position eine ProblemLösungsstrategie von mir, die ich in meiner Rolle nicht liefern kann. Hierarchisch höher gestellte Klienten schaffen es häufig nicht sich in einem Coaching komplett zu öffnen und sich auf den Prozess einzulassen.
– Verschwiegenheitspflicht
Als Coach sichere ich dem Klienten absolute Verschwiegenheit bezüglich aller besprochenen Themen zu. Wenn ein Klient während seiner Arbeitszeit bei mir in einem Coachinggespräch war, ergibt sich die Herausforderung, dass Vorgesetzte oft wissen möchten, was in dem Gespräch besprochen wurde und wie nun vorgegangen wird. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig im Vorhinein auch den Vorgesetzten über meine Grundprinzipien und Arbeitsweise aufzuklären, sodass im Nachhinein keine falschen Erwartungen gestellt werden können.
– Neutralität und Allparteilichkeit
Die Haltung der Allparteilichkeit stellt mich immer wieder vor große Herausforderungen. Nicht selten arbeite ich mit über 25 verschiedenen Kulturen zusammen, die ihr eigenes Wertesystem und ihre eigene Wirklichkeitskonstruktion mitbringen, welche sich in einigen Fällen sogar massiv von meinem eigenen Wertesystem unterscheidet. Da die Haltung der Allparteilichkeit, also der Neugier und Offenheit für fremde Sichtweisen zu einem aktiven Prozess gehören, muss ich diesen immer wieder steuern und mich an deren essenzielle Wichtigkeit erinnern.
– Wechselseitigkeit statt Kausalität
Im hektischen Arbeitsalltag wird oft nach einem Schuldigen oder Verursacher für bestimmte Situationen gesucht. Dieser linear kausale Zusammenhang spielt an Bord noch eine größere Rolle als in Unternehmen an Land. Arbeit und Freizeit vermischen sich als Crewmitglied an Bord eines Schiffes, die eigene Sicherheitsrolle an Bord muss jedoch zu jedem Zeitpunkt präsent und gewahrt sein. Dadurch ist die Arbeit an Bord oft geprägt von einer „Problem -> Ursache“ Haltung. Das Mitberücksichtigen der sozialen Vernetzung und dem Kontext als Grundprinzip in Coachingsitzungen ist für Klienten meist eine völlig neue Herangehensweise.
– Grundhaltung des Nicht-Wissenden
Nicht zu wissen, was die beste Lösung für Klienten darstellt, gehört mit zu den wichtigsten Grundprinzipien, um einen erfolgreichen Coachingprozess begleiten zu können. Dieses Prinzip stellt sich als größte Herausforderung in Coachinggesprächen dar. Als Coach orientiere ich mich an meinem Klienten, an seiner Realität und an dem, was für ihn gangbare Wege sind. Nun bin ich als Trainer im HR-Bereich an Bord angestellt. Dieser Bereich agiert oft als „Lösungslieferant“ und orientiert sich an den Bedürfnissen der Firma. Coaching ist jedoch eine Dienstleistung, bei der ich mich an den Wünschen und Zielen des Klienten ausrichte und nicht an denen der Firma. Dieser enorme Zwiespalt kann zu Gewissenskonflikten führen und bedingt, dass ich jedes Mal genau abwägen muss, ob ich den Auftrag annehme oder nicht.
Beispiel Teil 2
(Fortsetzung)
Es war mir, während der Auftragsklärung wichtig, dass wir den beidseitigen Verantwortungsbereich klar werden lassen. Ich erklärte ihr, dass ich als eine Art „Realitätenkellner“ fungiere, lösungsorientiert arbeite und mit meinen Methoden und Ansätzen den Prozess anreichern werde. Mein grundlegendes Ziel ist es, dass sie ihre Ressourcen bestmöglich ausschöpft und in eine eigene Handlungsfähigkeit kommt. Ein Großteil der Verantwortung liegt also auch bei ihr, indem sie das Ziel vorgibt und an der Zielerreichung im Prozess arbeitet. Das Crewmitglied beschrieb ihren inneren Konflikt und welche Auswirkungen diesen auf ihren Alltag haben (bspw. Schlaflosigkeit, Stimmungsschwankungen, Unzufriedenheit etc.). Als wir nun in die Zielformulierung einstiegen, begann ich aktiv mit der Methode des „Spiegeln und Doppelns“. Ich beobachtete, dass sie sich merklich entspannte und verstanden fühlte. Ich fragte daraufhin, welche Veränderung sie sich durch das Coaching erwarte und es ergab sich, dass sie sich mehr Klarheit und weniger inneren Entscheidungsdruck wünsche. Wir vereinbarten also einen Folgetermin für drei Tage später um 15:00 Uhr im Konferenzraum auf Deck 11.
Störungen im Coachingprozess
An Bord eines Schiffes hat Sicherheit die oberste Priorität.
Außerdem gibt es eine unausgesprochene Regel der „ständigen Erreichbarkeit“. Dadurch ergeben sich folgende Störungen im Prozess:
Äußere Faktoren
▫ Es gibt an Bord der Schiffe keinen Raum ohne Lautsprecher. Aus diesem Grund kann es sein, dass das Coachinggespräch durch eine Durchsage gestört wird. Je nachdem muss nach dieser Durchsage auch eine Handlung erfolgen, die zum sofortigen Abbruch des Coachings führt. Der Klient und ich als Coach werden also entweder kurz- oder langfristig aus dem Prozess gerissen.
▫ Der Ort des Coachings kann an Bord variieren. Der ungestörteste, aber räumlich nicht ideale Ort ist unser Büro an Bord. Dieses wird äußerst selten von anderen Personen betreten, kann auf Grund der kleinen Größe jedoch beklemmend wirken. Es können auch Konferenzräume gebucht werden, die jedoch von allen Personen an Bord genutzt werden können und dadurch teilweise doppelt gebucht, versehentlich falsch gebucht oder nicht zur Verfügung stehen. Der Raum kann also während des Coachinggespräches durch andere Personen versehentlich betreten werden.
▫ Klienten kommen häufig in ihrer Freizeit zu einer Coachingsitzung. Der Arbeitsalltag an Bord gestaltet sich anders als bei einem Job an Land. Wir arbeiten in einer 7- Tage Woche mit häufig über 10 Stunden am Tag. Da lässt sich kaum Zeit für ein Coaching finden. Daher kommen Klienten oft in ihrer Pause oder nach ihrer Schicht. Ich muss als Coach also unheimlich flexibel in meinen eigenen Arbeitszeiten sein und habe häufig ausgelaugte Klienten vor mir sitzen. Sitzungen können auch aus diesem Grunde nicht länger als eine Stunde betragen. In Ausnahmefällen kann ich 1,5 Stunden arrangieren. Da die Arbeit an Bord Vorrang hat, werden ausgemachte Termine nicht selten verschoben, kurzfristig abgesagt oder vorgezogen. Diese Störung bedingt, dass ich als Coach so flexibel, wie möglich agiere, bei Wiederholung jedoch abwägen muss, ob ich meine Dienstleistung unter den Umständen weiterhin so anbieten kann.
▫ Unabhängig davon, ob der Klient während seiner Freizeit oder seiner Arbeitszeit an Bord zu einem Coachinggespräch erscheint, ist es an Bord häufig so, dass die Führungskräfte von ihren Mitarbeitern ständige Erreichbarkeit erwarten und so die Telefone während des Prozesses nur auf Nachfrage und meist mit einem unangenehmen Gefühl lautlos gestellt werden. In einigen Fällen kann der Klient dennoch aus verschiedensten Gründen sein Telefon nicht lautlos stellen und so ergeben sich häufig Unterbrechungen durch Anrufe.
▫ An Bord ist das Tragen einer Uniform die Norm. Als Trainer habe ich Offizier Status und trage dadurch eine Uniform, die dies auch äußerlich signalisiert. Mit meinem Klienten möchte ich jedoch auf Augenhöhe kommunizieren und in einen Rapport kommen, um eine Vertrauensbasis zu schaffen. Die Uniform kann, je nach Klienten und hierarchischer Struktur, eine Störung sein, indem sie angsteinflößend oder aber auch kompetent wirken kann.
▫ Anders als in einem Unternehmen an Land ist das Leben und Arbeiten an Bord sehr viel schnelllebiger. Der Wechsel in der Führungsebene, sowie ein häufiger Mitarbeiterwechsel führt zu einem sich ständig ändernden System. Häufig wechselnde Teamkollegen, Führungskräfte und auch an Bord gewonnene Bezugspersonen führen dazu, dass sich etwaige Probleme eines Klienten im Laufe des Coachingprozesses ändern, verschlimmern oder ohne eigenes Zutun besser werden.