Abschlussarbeit von Jasmina Bendlin, als PDF lesen
Einführung: Kontext & Hintergrund
Im Rahmen der Ausbildung zum systemischen Coach beim Trainingsinstitut InKonstellation wurden in neun Modulen eine Vielzahl an Ansätzen, Methoden und Werkzeugen zum lösungsorientierten Begleiten und Befähigen von Menschen in unterschiedlichsten Kontexten gelehrt und angewandt.
Die Schwerpunkte während der Ausbildung waren u.a. das Erlernen von Grundlagen im systemischen Ansatz wie Konstruktivismus und Systemtheorie; das aktive Üben von Coaching Werkzeugen und Interventionen sowie tiefgehende Einblicke und Erlernen von Methoden aus den Bereichen der positiven Psychologie, Konfliktmanagement, Business Coaching, eine Einführung in wingwave und ein umfangreicher Exkurs zum hypnosystemischen Ansatz.
Die Ausbildungsdauer betrug insgesamt 216 Stunden, zuzüglich Supervisionen, Peergruppenarbeit, Übungsgruppen sowie -coachings und Selbsterfahrung, sodass sich eine Gesamtdauer von ca. 350 Stunden über neun Monate ergibt.
Der Abschluss der Ausbildung ist gekennzeichnet durch ein externes Abschlusscoaching mit anschließender Supervision sowie dem Verfassen einer Hausarbeit zu einem Coaching-Thema eigener Wahl.
Das Thema was mich sowohl persönlich als auch fachlich im besonderen Maße geprägt und beeindruckt hat, war der hypnosystemische Ansatz, weshalb ich meine Abschlussarbeit den Besonderheiten der Hypnosystemik widme.
Ziel & Aufbau
Die Abschlussarbeit zielt darauf ab, folgende Fragestellungen zu beantworten und für alle Lesenden und Interessierten nachvollziehbar zu erläutern:
1.Was bedeutet hypnosystemisches Arbeiten und wofür ist es gut?
2. Auf welchen Besonderheiten fußt der hypnosystemische Ansatz?
3. Welche Interventionsmöglichkeiten ergeben sich im hypnosystemischen Ansatz?
Insgesamt gliedert sich die Abschlussarbeit in 13 Seiten, aufgeteilt in 5 Kapiteln. Beginnend mit einer Definition des hypnosystemischen Ansatzes beleuchten die darauffolgenden Kapitel die Besonderheiten und grundsätzlichen Annahmen, worauf die in Kapitel 4 geschilderten Interventionsmöglichkeiten des hypnosystemischen Ansatzes aufbauen.
Die Arbeit schließt mit einer auf die oben genannten Leitfragen gerichteten Schlussfolgerung ab.
Der hypnosystemische Ansatz
Mit Blick auf die erste Leitfrage dieser Hausarbeit befasst sich das folgende Kapitel mit der Fragestellung:
Was bedeutet hypnosystemisches Arbeiten und wofür ist es gut?
Der hypnosystemische Ansatz wurde ab 1980 von Dr. Gunther Schmidt, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Leiter des Milton-Erickson-Instituts in Heidelberg, entwickelt und geprägt (vgl. Schmidt 2020: 7 ff.).
Dabei wurden erstmalig systemische Konzepte der Heidelberger Schule mit den hypnotherapeutischen Aspekten Milton H. Ericksons kombiniert, um eine würdigende und systemisch konstruktivistische Therapie- und Beratungsmethode zur Kompetenzaktivierung von Klient:innen zu schaffen (vgl. Schmidt, 2022).
Die Vorteile beider Richtungen werden im hypnosystemischen Ansatz gewinnbringend kombiniert.
Als problematisch empfundene Prozesse und Symptome werden dabei grundsätzlich und kontextbezogen als Fähigkeit und Funktionen mit einer ursprünglich konstruktiven Absicht gewürdigt.
Salopp formuliert:
Die Hypnotherapie kennt den Stoff, aus dem die „Symptome“ wie auch die gewünschten Veränderungen sind, die Systemische Therapie das Feld, auf dem sie wachsen.
Hain 2006
Die systemische Orientierung ebenso wie die hypnotherapeutische Arbeit basieren auf Grundannahmen, deren ausführliche Darstellung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden.
Um jedoch die Symbiose greifbar zu machen, skizzieren die folgenden zwei Absätze einige wesentliche Kernelementen aus dem systemischen Ansatz sowie der Hypnotherapeutischen Arbeit.
Systemischer Ansatz
Der systemische Ansatz beschreibt den einzelnen Menschen als ein Teil des Systems, in welchem er lebt.
Individuen sind stets in Kontexte eingebunden.
Dabei steht jeder Mensch in ständiger Wechselwirkung mit anderen Beteiligten eines Systems, welche sich gegenseitig durch ihre Kommunikation und ihr Verhalten beeinflussen (vgl. Systemische Gesellschaft, 2022).
In der systemischen Arbeit geht es maßgeblich darum, jene Wechselbeziehungen in ihrer gegenseitigen Bedingtheit in der Interaktion (Systemwirkungen) anstatt in einer linearen Ursache-Wirkungs-Kette zu betrachten. Systeme (zum Beispiel Familiensystem, Beruf, etc.) folgen stets einem Selbsterhaltungstrieb und etablieren sich Regeln, Muster und Strukturen, die sich im Umgang miteinander bewährt haben und das System somit stabil halten.
Findet eine Störung oder eine Veränderung im System statt, wirkt sich dies entweder direkt auf einzelne Beteiligte oder auf die Beziehungen untereinander aus.
Dies kann sowohl positiv als auch negativ empfundene Auswirkungen haben und dadurch Ungleichgewichte, problematische Verhalten oder gar Krankheitssymptome auslösen.
Bei der systemischen Arbeit mit Klient:innen wird der gewünschte Zielzustand bzw. ein gewünschtes Erleben in der Vordergrund gestellt.
Es geht um das Schaffen einer brauchbaren Wirklichkeit anstatt um das Festhalten an oder dem Suchen von „objektiven“ Wahrheiten. Der Kontextbezug von Aussagen und Verhalten bestimmt die Bedeutung menschlicher Kommunikation.
Jedes Verhalten ergibt in einem bestimmten Kontext Sinn.
Als problematisch empfundene Elemente gelten als nicht mehr kontextadäquat. Genauso stehen Ressourcen-, Ziel- und Lösungsorientiertheit statt Problembezogenheit und Ursachen- bzw. Schuldsuche im Vordergrund.
Das lösungsorientierte Arbeiten sorgt für die Entdeckung neuer Wege und Strategien, um Veränderungen im zwischenmenschlichen Miteinander, in der Beziehungsgestaltung, Kommunikation und Verhaltensweisen möglich zu machen.
Die CoEvolution von möglichen Lösungsansätzen steht dabei im Vordergrund, denn die Klient:innen gelten stets als Experten für sich selbst.
Während der gemeinsamen Arbeit wird stets die systemische Sichtweise eingenommen und Wechselwirkungen in der gewünschten Veränderung betrachtet, um im Lösungsweg alle Auswirkungen auf das Gesamtsystem mit einzubeziehen, so dass eine nachhaltige Umsetzung überhaupt erst möglich wird.
Hypnotherapeutischer Ansatz
Der hypnotherapeutische Ansatz beschreibt eine Methode zur Aufmerksamkeitsfokussierung auf das innere Erleben, auf unwillentliche und unbewusste Prozesse (= das Unbewusstsein).
Wirklichkeit ist Aufmerksamkeitsfokussierung.
Große Teile dessen, was wir als „Wahrnehmung“ titulieren, ist uns nicht bewusst. Im Unbewusstsein wird sowohl quantitativ als auch qualitativ wesentlich mehr verarbeitet als im Bewusstsein.
Die moderne Hirnforschung spricht dabei vom sogenannten Episodengedächtnis, in welchem sowohl das wahrgenommene Problem als auch die Lösung in eigenständigen Erlebnisnetzwerken gespeichert sind (vgl. Schmidt 2020: 12 ff.).
Die Hypnotherapie macht sich dieses Wissen zunutze und arbeitet mit veränderten Bewusstseinszuständen.
Mittels geeigneter Techniken wird dazu ein auf körperlicher Ebene entspannter Zustand induziert und gleichzeitig die Aufmerksamkeit intensiv auf innere Bilder, Vorstellungen und Erinnerungen gelenkt – ein sogenannter tranceinduzierter Zustand wird erreich (= veränderter Bewusstseinszustand mit einem intensiven mentalen Erleben).
Dabei werden neurophysiologische Vorgänge im Sinne von Lern- und Gedächtnisprozesse aktiviert, welche sich gegenseitig befeuern und miteinander verbinden können.
Cells that fire together, wire together
Hebb formulierte 1949 dazu in seinem Buch The Organization of Behavior:
Wenn ein Axon der Zelle A […] Zelle B erregt und wiederholt und dauerhaft zur Erzeugung von Aktionspotentialen in Zelle B beiträgt, so resultiert dies in Wachstumsprozessen
und weiter:
„oder metabolischen Veränderungen in einer oder in beiden Zellen, die bewirken, dass die Effizienz von Zelle A in Bezug auf die Erzeugung eines Aktionspotentials in B größer wird.“(Hebb 2002)
In einfachen Worten bedeutet dies, dass je öfter ein Neuron A mit einem weiteren Neuron B reagiert, desto häufiger reagieren diese Neuronen miteinander, wodurch sich wiederum eine Synapse stärkt und Neurone A und B somit miteinander verbunden werden.
Durch einen tranceartigen Zustand werden jene Lern- und Erinnerungsprozesse besonders angesprochen und bildhafte Verarbeitungsprozesse unterstützt.
Der analytische Anteil des Verstandes wird zeitgleich zugunsten des assoziativen gedämpft, was Klient:innen besonders empfänglich für Suggestionen, Bilder und Metaphern macht und eine erhöhte Kreativität der Gedankengänge und Lösungsfindungen erklärt.
Dies birgt ideale Voraussetzungen für die Arbeit an gewünschten Veränderungsprozessen (vgl. Schmidt 2020: 13-18).
Erstes Zwischenfazit
Zusammenfassend kann die erste Leitfrage „Was bedeutet hypnosystemisches Arbeiten und wofür ist es gut?“ wie folgt beantwortet werden:
Der hypnosystemische Ansatz setzt sich aus zwei grundsätzlichen Elementen zusammen.
Das erste Element – Hypnose – beschreibt dabei das systematische Arbeiten mit unwillentlichen und unbewussten Prozessen. Mittels Hypnose kann durch die Berücksichtigung von jenen Prozessen auf der Ebene des inneren Erlebens gearbeitet werden.
Gepaart mit dem systemischen Ansatz werden diese unwillentlichen / unbewussten Prozesse kontextadäquat und zieldienlich in optimale Kooperation mit den kognitiv willentlichen und bewussten Prozessen gebracht (vgl. Schmidt 2020: 13-18).
In der Praxis erweist sich der hypnosystemische Ansatz dabei als ein differenziertes und schulenübergreifendes Erklärungsmodell in Beratung, Coaching und Psychotherapie sowie für mediative Ansätze oder im Kontext von Team- und Organisationsentwicklung.
Wenn sich Menschen für eine Beratung oder Therapie entscheiden, befinden sie sich häufig in einer Problemtrance und richten ihre Aufmerksamkeit auf das Problem.
Das Gefühl, vom Problem hypnotisiert zu sein und kreisende Gedanken zu erleben wird häufig als lähmend und belastend empfunden. Die Problemtrance wird in der Regel als unwillkürlich und damit als schlecht zugänglich erlebt, Klient:innen fühlen sich machtlos und dem Problem ausgeliefert.
Im Hypnosystemischen Ansatz wird genau diese Problemtrance dazu genutzt um in eine Lösungstrance hineinzukommen.
Dies kennzeichnet die Grundhaltung im hypnosystemischen Ansatz:
Nicht nur die Person in ihrem jeweiligen Umfeld, sondern auch die in Symptomen und Konflikten verborgenen Kompetenzen und Ressourcen wertzuschätzen und dadurch einen würdevollen Weg zur gewünschten Veränderung zu bahnen.
In erster Linie ist Hypnosystemik eine Haltung und Einstellung, bei welcher sich hypnotherapeutische und systemische Entwicklungen integrativ und kunstvoll bereichern (vgl. Hain 2017).