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Alice Miller ist eine, in meinen Augen, zu wenig gelesene und leider zu wenig populäre Psychoanalytikerin, Analystin ihrer Zeit und Mahnerin.
Immer wieder hat sie darauf gedrängt den Kindern zuzuhören, ihr Leid ernst zu nehmen, Gewalt gegen Kinder zu benennen, das Thema zu enttabuisieren und endlich den kausalen Zusammenhang zwischen Gewalt in der Kindheit und der weltweiten Gewalt zu erkennen.
Tabuisierung des Themas Gewalt gegen Kinder nützt immer nur den Mächtigen, sprich Erwachsenen. Nie dem Machtlosen, Ausgelieferten, sprich dem Kind.
Alice Miller, 1923 in Polen in eine jüdische Familie geboren, überlebte das Ghetto während der deutschen Besetzung nur Dank eines gefälschten Passes. Sie schaffte es sogar noch ihre Mutter und ihre Schwester aus dem Ghetto zu retten. Ihr Vater kam leider um.
Nach dem Studium verschiedener geisteswissenschaftlicher Fächer an diversen Universitäten ließ sie sich schließlich zur Psychoanalytikerin ausbilden.
In diese Jahre fällt auch die Geburt ihrer Kinder, denen sie keine besonders gute Mutter war. Interessant genug steht sie hier in der traurigen Tradition vieler berühmter Pädagogen und Kinderrechtler, wie z.B. Jean-Jaques Rousseau oder Johann Heinrich Pestalozzi.
Würdigen möchte ich Alice Miller für ihre umfassende, höchst engagierte Arbeit und ihre zahlreichen Veröffentlichungen und Bücher. Die bekanntesten wie „Das Drama des begabten Kindes“,
„Du sollst nicht merken“ oder „Am Anfang war Erziehung“ sind sicher dem ein oder anderen ein Begriff.
Unfassbar interessant und erhellend ist auch wie sie (u.a. in „Der gemiedene Schlüssel“) Werke, Kunstschaffende und deren Kindheit in Beziehung setzte:
Schiller, Proust, Nietzsche, Picasso, Käthe Kollwitz, Buster Keaton und viele Andere.
1988 trat sie sowohl aus der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse als auch der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung aus,
… weil sie der Meinung ist, daß die psychoanalytische Theorie und Praxis den ehemaligen Opfern der Kindesmißhandlungen verunmöglicht, dies zu erkennen und die Folgen der Verletzungen aufzulösen
Alice Miller wandte sich in all ihren Büchern vor allem gegen die sogenannte „Schwarze Pädagogik“.
Hierunter versteht man eine Erziehung, die Mittel der Einschüchterung, Manipulation, Machtmißbrauch und Drill als probate Mittel ansieht, um Kinder, häufig von Geburt an, gefügig zu machen.
Wie lange Menschen, die dieser grausamen Dressur ausgesetzt waren, leiden und wie Traumata auch das Leben in Familien über Generationen hinweg beeinflussen, lässt sich schön in Sabine Bodes Büchern über die sogenannten „Kriegskinder“ in Deutschland nachlesen: „Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“.
Und über die nachfolgende Generation: „Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation“.
Zur „Schwarzen Pädagogik“
Großen Einfluß auf den Umgang mit Kindern zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte in Deutschland die preußische Auffassung Kindern müsse mit Disziplin der Wille gebrochen werden.
Bekannte Erziehungsratgeber waren die Bücher von Dr. Schreber, die Mitte des 19. Jahrhunderts rasend populär waren.
Ich zitiere:
„grundloses Schreien und Weinen….Hat man sich überzeugt, daß kein richtiges Bedürfnis…vorhanden ist, so kann man sicher sein, daß das Schreien eben nur der Ausdruck einer Laune,…,das erste Auftauchen des Eigensinns ist. Man darf sich jetzt nicht mehr wie anfangs ausschließlich abwartend dabei verhalten, sondern muß schon in etwas positiverer Weise entgegentreten: …durch…ernste Worte, drohende Gebärden, Klopfen ans Bett….oder wenn dies alles nicht hilft – durch… beharrlich wiederholte körperlich fühlbare Ermahnungen….Eine solche Prozedur ist nur ein- höchstens zweimal nötig, und – man ist Herr des Kindes für immer.“
Wohlgemerkt: Hier geht es um den Umgang mit völlig ausgelieferten, hilflosen Säuglingen!
(Nebenbei bemerkt war ein Sohn Schrebers bei Freud in Behandlung wegen Paranoia, der andere Sohn suizidierte sich)
Man wollte also folgsame Untertanen und Soldaten. Die beinahe schon sprichwörtliche deutsche Obrigkeitshörigkeit findet man literarisch wunderbar ironisch und voll galligem Spott beschrieben in Werken wie z.B. Heinrich Manns „Der Untertan“ oder Carl Zuckmayers „Der Hauptmann von Köpenick“.
Ein Zitat hieraus: „Sowas gibt es nur in Deutschland“…
Dies war der „Kompost“ auf dem die faschistische Ideologie wunderbar gedeihen konnte.
Die Lungenfachärztin Johanna Haarer veröffentlichte den Ratgeber, einen Bestseller, „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ im Jahr 1934.
Ein Werk, das 1,2 Millionen Mal verkauft wurde und als Grundlage für die nationalsozialistische Erziehung in Kindergärten, Heimen und den sogenannten „Reichsmütterschulungen“ verwendet wurde.
Zitate aus „Die deutsche Mutter…“:
„Am besten ist das Kind in einem eigenen Zimmer untergebracht, in dem es dann alleine bleibt“…
Beginnt das Kind zu schreien oder zu weinen, solle man es ignorieren:
„Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch, dass es nur zu schreien braucht, um eine mitleidige Seele herbeizurufen und Gegenstand solcher Fürsorge zu werden. Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht, gibt keine Ruhe mehr, bis es wieder getragen, gewiegt oder gefahren wird – und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig!“….
„Die Überschüttung des Kindes mit Zärtlichkeiten, etwa gar von Dritten, kann verderblich sein und muss auf die Dauer verweichlichen. Eine gewisse Sparsamkeit in diesen Dingen ist der deutschen Mutter und dem deutschen Kinde sicherlich angemessen.“
Gleich nach der Geburt sei es empfehlenswert, das Kind für 24 Stunden zu isolieren; statt in einer “läppisch-verballhornten Kindersprache” solle die Mutter ausschließlich in “vernünftigem Deutsch” mit ihm sprechen, und wenn es schreie, solle man es schreien lassen. Das kräftige die Lungen und härte ab.
“Das Kind wird gefüttert, gebadet und trockengelegt, im Übrigen aber vollkommen in Ruhe gelassen“, riet damals Johanna Haarer. Dieses Buch wurde übrigens (vom gröbsten Nazijargon bereinigt) bis 1987 verkauft. Andere Bücher der Autorin wie das „kindgerecht“ antisemitische und antikommunistische „Mutter, erzähl von Adolf Hitler“ zum Glück nicht.
Diese Pädagogik dient dazu von Anfang an eine ungute Distanz zu schaffen und erzeugt, laut Bindungsforscher*innen, unsicher gebundene und damit auch verführbare Menschen.
Ideal also, wenn man plant, daß Mütter bspw. tolerieren sollen, daß ihre Söhne als Soldaten „fürs Vaterland“ getötet werden.
Solche Erfahrungen können traumatisieren. Zwischen 2009 und 2013 untersuchten die Psychologin Ilka Quindeau und ihre Kollegen von der Frankfurt University of Applied Science im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung die Generation der Kriegskinder. Eigentlich sollte sich ihre Studie um die Spätfolgen von Bombenangriffen und Flucht drehen. Doch nach den ersten Interviews mussten die Forscherinnen ihr Studiendesign abändern: In den Gesprächen kamen derart häufig Erfahrungen in der Familie zur Sprache, dass sie sich dazu entschieden, ein zusätzliches, mehrstündiges Interview zu diesem Thema anzuschließen. Am Ende halten die Wissenschaftlerinnen fest:
„Diese Leute zeigten ein Muster auffällig starker Loyalität mit den Eltern. Dass in den Schilderungen überhaupt keine Konflikte angesprochen wurden, ist Zeichen einer Beziehungsstörung.“
Zudem weist Quindeau darauf hin, dass nirgendwo sonst in Europa ein so ausführlicher Kriegskinderdiskurs stattfinde wie in Deutschland – obwohl es auch in anderen Ländern Zerstörung und Bombenangriffe gegeben habe.
Auf der Verhaltensebene könne man nur das weitergeben, was man selbst an Erfahrungen kennt, erklärt Klaus Grossmann, Psychologe, Verhaltensbiologe und Hochschullehrer, der die Mutter-Kind-Bindung bereits seit den 1970er Jahren mit seiner Frau untersucht.
Zwar können Eltern sich bewusst mit ihrer eigenen Bindungserfahrung auseinandersetzen und versuchen, ihre eigenen Kinder anders zu erziehen. “In stressigen Momenten verfällt man jedoch oft wieder in die gelernten, unbewussten Muster“, meint Grossmann.
Vielleicht wollte Gertrud Haarer, die jüngste von Johanna Haarers Töchtern, deshalb nie selbst Kinder haben. Sie hat sich öffentlich kritisch mit ihrer Mutter auseinandergesetzt und nach einer schweren Depression ein Buch über deren Leben und Vorstellungen verfasst. Lange sei sie selbst unnahbar gewesen, sagt sie, und an ihre Kindheit habe sie keine Erinnerung.
“Offenbar hat mich das so traumatisiert, dass ich dachte, ich könnte nie Kinder erziehen“, erklärte sie in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk.