Abschlussarbeit von Laura Howorka, als PDF lesen
Einleitung
In meiner beruflichen Laufbahn als Sozialarbeiterin habe ich schon mit viele unterschiedliche Menschen in den verschiedensten Lebenslagen gearbeitet und ihnen meine Unterstützung und Hilfe angeboten.
Natürlich bin ich durch mein Studium der Sozialen Arbeit und einige Praktika in dieser Zeit auf mein professionelles Tun vorbereitet worden, doch besonders durch meine Entwicklung in dieser Coaching-Ausbildung habe ich nach einiger Zeit gespürt, dass ich über viele Tätigkeiten in meinem beruflichen Alltag anders denke und ich in vielen Situationen anders handele, als ich es noch vor einiger Zeit getan hätte.
Auch in meinem Studium wurden Methoden und Theorien aufgegriffen und das „Innere Team“ und die systemischen Ansätze waren mir alles andere als fremd.
Trotzdem habe ich erst durch die Ausbildung und die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Coaching und Mensch-Sein in all den vielen unterschiedlichen Systemen eine tiefgreifende Veränderung bei mir gespürt, die eine Einfluss auf mein professionelles Handeln, den Blick auf mein Umfeld, meine Klient*innen und auch auf mich selbst grundlegend verändert hat.
Es ist, als wäre es gestern gewesen.
Ich sehe meinen Professor vorne im Raum stehen. Ich sitze in der letzten Reihe und versuche, mich zwischen dem Getuschel meiner Kommiliton*innen, dem Brummen des Beamers und der schwülen Hitze im Raum auf das vorne Gesagte zu konzentrieren.
Mein Kopf rattert und so ganz kommt die Euphorie, die uns der Professor bei den Themen Systemtheorie und Lebensweltorientierung näherbringen möchte, nicht in den letzten Reihen an.
Trotzdem kann ich mich noch heute an seine Freude und Leidenschaft erinnern, mit welcher er uns diese Thematik vermitteln wollte und wünsche mir manchmal, dass ich schon damals erkannt hätte, wie sehr diese Grundeinstellung zu mir und meinem Leben passt.
Doch gleichzeitig kann ich auch behaupten, dass ich auch ohne das konkrete Wissen und die damalige absolute Leidenschaft in vielen Situationen aus der systemischen Haltung heraus intuitiv gehandelt habe.
Aus diesem Grund möchte ich in dieser Abschlussarbeit auf die systemische Haltung im Allgemeinen und die systemische Haltung in der Sozialen Arbeit eingehen.
Dafür werde ich kurz die Frage erläutern, was überhaupt ein System ist und auf relevante Begriffe eingehen, die im Zusammenhang mit der Systemtheorie stehen.
Anschließend beschreibe ich die systemische Haltung in der Sozialen Arbeit und veranschauliche sie an einem Beispiel aus der Praxis der Jugend- und Familienhilfe.
Die systemische Sichtweise
Bei der Recherche bezüglich des systemischen Ansatzes wurde mir deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, einen Anfang und ein Ende bei dieser Thematik zu finden. Angefangen bei der geschichtlichen Entstehung bis hin zu den unterschiedlichen Erklärungsansätzen und ihren Kritikern (z.B. Luhmann vs. Habermas).
Deshalb geht es in dem folgenden Abschnitt um die Beschreibung einer grundlegenden systemischen Sichtweise, die Haltung in der systemischen Arbeit und wichtige Begriffe, welche die Systemtheorie prägen.
Was ist ein System?
Die systemische Arbeit wurde stark von Virginia Satir und ihrem familientherapeutischen Ansatz geprägt.
In den 50er Jahren wurde die Entwicklung der Familientherapie dadurch vorangetrieben, dass ein Einbezug der Bezugspersonen der betroffenen Klient*innen mit in den Therapieprozess stattfand.
Durch diese Herangehensweise wurde plötzlich ein bestimmtes Verhalten einer Person als in einem bestimmten Gefüge als sinnvoll erkannt.
So entstand die Sichtweise, dass ein „Problem“ nicht aus einer Einzelperson heraus Betrachtung finden kann, sondern nur in der Betrachtung des gesamten Systems behandelbar war.
In den 70er und 80er Jahren entwickelte sich die Familientherapie als immer selbstverständlicher und der systemische Blickwinkel bekam auch in anderen Bereichen Einzug (z.B. Jugendhilfe).
Nach und nach wurden die systemischen Konzepte auch in weitere Bereiche übernommen und gewannen an einer großen Beliebtheit (z.B. Schulen, Teamentwicklung).1
Der systemische Ansatz versteht den Menschen in einer Wechselwirkung mit seinem sozialen Umfeld.
Das System, in welchem ein Mensch lebt, wird mit all seinen Einzelelementen betrachtet, wodurch der einzelne Mensch nur ein Teilaspekt des Systems ist.
Jedes Einzelelement hat einen Einfluss auf das gesamte System. Beispiele für ein System sind Familien, Paarbeziehungen oder Unternehmen.
Die einzelnen Elemente beeinflussen sich und sind voneinander abhängig.
Zudem lassen sie sich von allem außerhalb des Systems abgrenzen.
Es findet eine Unterscheidung zwischen lebenden und nicht-lebenden Systemen statt. In den lebenden Systemen werden bestimmte Verhaltensweisen aktiv aufrechterhalten.
Es wird davon ausgegangen, dass alles in einer Veränderung ist – außer jemand sorgt dafür, dass etwas so bleibt, wie es ist.
Ein Beispiel hierfür ist die Beule an einem Auto (nicht-lebendes System) und die Beule an einem Kopf (lebendes System). Während bei der Beule an dem Auto keine Hinterfragungen gestellt werden, wenn diese nach drei Wochen noch vorhanden ist, wird bei der Beule am Kopf deutlich, dass jemand oder etwas dafür gesorgt haben muss, dass sie vorhanden bleibt (z.B. jeden Morgen mit einem Hammer gegen den Kopf hauen).
In einem lebenden System gibt es unendlich viele Möglichkeiten des Verhaltens, die nicht vorhersehbar sind.
Trotzdem gelingt es der Gesellschaft durch Werte und Regeln, ein Zusammenleben zu gestalten und Dinge teilweise vorhersehbar zu machen.2
Eine weitere Unterscheidung, welche in diesen Zusammenhang gebracht werden kann, ist die Unterscheidung zwischen den komplizierten und den komplexen Systemen.
Ein kompliziertes System ist schwierig zu durchschauen, lässt sich jedoch auflösen.
Beispielsweise können die verwinkelten Einbahnstraßen in einer italienischen Großstadt erstmals verwirrend wirken, hat man jedoch die Regeln und Prinzipien der Straßen verstanden, erscheint alles logisch und vorhersagbar.
Bei einem komplexen System ist dieses nicht so. Wirft man beispielsweise einen Tennisball in eine Schar von Katzen, so lässt sich im Vorfeld nicht bestimmen, wie die Katzen auseinanderspringen werden. Ihr Verhalten ist nicht vorhersagbar.
Ebenso wenig wie das Verhalten lebender Systeme.3
Relevante Begriffe
Im systemischen Ansatz spielen die Begriffe der Zirkularität, des Konstruktivismus, der Autopoiese und der Kybernetik 2. Ordnung eine wichtige Rolle.
Im Zusammenhang mit diesen Begriffen ergibt sich eine bestimmte Haltung in der systemischen Arbeit.
In der Zirkularität geht es darum, dass das Verhalten von Personen in einer wechselseitigen Verbindung zueinandersteht.
Somit wird deutlich, dass sich die Handlungen und die Kommunikation von Menschen wechselseitig beeinflussen. Jedoch erscheint es häufig so, dass Menschen in einem Ursache-Wirkung-Muster denken und die Annahme entsteht, dass ein bestehender Konflikt nur durch die Veränderung eines Gegenübers gelöst werden kann.
Im systemischen Ansatz geht es jedoch nicht um Schuldzuweisungen, da jede Person in Bezug zur Zirkularität die Möglichkeit hat, Lösungen durch eigene Verhaltensänderungen zu finden.
Der Konstruktivismus beschreibt, dass jede Person die Umwelt subjektiv wahrnimmt und nicht in einer objektiven Wirklichkeit betrachtet.
Es entsteht ein Blick durch die Brille, die durch subjektive Erfahrungen geprägt ist. Somit gibt es keine Wahrheit und dadurch auch keine Kategorien wie beispielsweise richtig vs. falsch.
Hierdurch entsteht die Ansicht, dass es nicht den einen Lösungsweg gibt, sondern eine Erkundung vieler verschiedener Wege stattfinden darf.
Durch die konstruktivistische Sichtweise bekommen wir die Möglichkeit, uns eine neue Wirklichkeit zu erschaffen und uns so von alten Denkmustern zu befreien, die nicht dienlich für uns erscheinen.
Die Autopoiesis besagt, dass Systeme nach außen hin geschlossen sind und sich aus sich selbst heraus gestalten.
Somit kann der autonome Mensch sich auch nur aus sich selbst heraus verändern. Die inneren Vorgänge bei einem Menschen sind von außen nicht ersichtlich und es findet lediglich eine Beobachtung statt.
Dieses führt dazu, dass die Außenwelt nur Anregungen für alternative Denkmuster machen kann, jedoch nur das Individuum selbst entscheiden kann, was passend und hilfreich ist.
Die Kybernetik 2. Ordnung sagt aus, dass das System von außen nicht objektiv betrachtet wird, da der Beobachter immer mit zum System gehört und es mit beeinflusst, sobald er das System als ein System abgrenzt.
Durch eine Beobachtung der Beobachtung wird hierdurch die Frage beantwortet, wie die Beobachtung so gestaltet werden kann, dass sie einem gesteckten Ziel dient.4
Aus diesen Begriffen ergibt sich eine systemische Haltung, welche davon ausgeht, dass jede Handlung und jedes Verhalten einen Grund hat. Es findet keine Bewertung statt und es gibt nicht die „richtige“ Wirklichkeit.
Jede Person ist Expert*in für dich selbst und alles ist okay. Du bist okay und ich bin okay. Gleichzeitig gibt es jedoch auch die Möglichkeit, alles zu verändern, da nichts so bleiben muss, wie es ist.
Quellen bis hierher (genaue Quellenangaben sind in der Original PDF zu finden)
1 vgl. systemische Gesellschaft (2022): o. S.
2 vgl. von Schlippe u. Schweitzer (2007): S. 55
3 vgl. Richter u. Rost (2014): S. 5
4 vgl. Sieger (2020): S. 26