Interkulturelles Coaching

Über kulturelle Brillen und das Coaching mit Menschen, die sie tragen

Abschlussarbeit von Dr. Tagrid Yousef, als PDF lesen


Betritt nicht das Haus eines anderen,
bevor er dich nicht dazu auffordert
und dich begrüßt.
(arabisches Sprichwort)

Einleitung

Wir schreiben das Jahr 2012: ein typisches Lehrer:innenzimmer an einem Berufskolleg einer Stadt, mitten im Ruhrgebiet. …

Mehr denn je zuvor wird deutlich, dass die Entwicklung von Gesellschaft eine Interaktion von Strukturen und Akteuren ist.

Gesellschaft ist ein Phänomen, dass den Individuen einen Rahmen gibt, innerhalb dessen sie sozialisiert werden. Zugleich verändern sich die Rahmenbedingungen und damit auch die Spiel- bzw. Handlungsräume der Menschen.

Während es in der Ständegesellschaft relativ klare Zuordnungen zur jeweiligen Gruppe qua Geburt gab, verschwimmen diese Grenzen seit der Moderne zunehmend. Rein formal hat jeder Mensch die Möglichkeit alles zu werden.

Doch die Rahmenbedingungen sind nicht immer gleich.

In den 60er Jahren wurde bereits das Bild der Gesellschaft bezüglich der kulturellen, ethnischen oder religiösen Entwicklung diverser. Heute kann man sagen, dass dies politisch nicht gewollt war.

Man warb Arbeitskräfte an, bei denen man davon ausging, dass sie nach einer gewissen Zeit wieder gehen würden. Doch zunehmend stellte sich heraus, dass dem – aus unterschiedlichen Gründen – nicht so war. Nicht zuletzt die Arbeitgeber beabsichtigen die eingearbeiteten Kräfte in den Betrieben zu halten, um die Kosten für neue Anlernprozesse gering zu halten.

Der Familiennachzug, der dann ermöglicht wurde, ließ die Gesellschaft immer heterogener werden.

Multiple Kulturen fanden sich in den gemeinsamen Räumen ein – oder anders ausgedrückt, die Arbeiter unterschiedlichster Herkunft fanden sich in den Bergwerken, an den Hochöfen, in den Werkssiedlungen wieder, in denen sie eine multikulturelle Gemeinschaft bildeten.

Überall wo Menschen zusammenleben, entsteht Stoff für Konflikte.

Diese sind menschlich und können durch verschiedene kulturelle Normen und Werte hervorgerufen werden. Denn auch innerhalb einer vermeintlich einheitlichen Gruppe sind heterogene Strömungen zu erkennen, wenn auch z.B. das Herkunftsland von Außen als gemeinsame Klammer gesehen wird.

Um diese Unterschiede zu betrachten und auch wahrzunehmen, bedarf es keiner Betrachtung von Menschen, die eine andere Herkunft haben. Hier reicht ein Blick in die äußersten „Zipfel“ der Bundesrepublik Deutschland.

Welche Gemeinsamkeiten haben Rosenheimer:innen und Flensburger:innen?

Neben dem unterschiedlichen Bier, legen die einzelnen Gruppen auch viel Wert auf ihre „Herkunft“, die für jede:n höchste Priorität hat. Dabei geht es um kulturelle Unterschiede, Gepflogenheiten und auch die Sprache, die sie voneinander unterscheiden.

Und insbesondere auf diese Unterschiede wird viel Wert gelegt und häufig stehen eben diese bei Konflikten im Vordergrund, statt auf Gemeinsamkeiten zu blicken.

Aus dem zuvor geschilderten kann folgende Hauptfrage aufgeworfen werden:

Ist unsere Gesellschaft stark genug, diesen Entwicklungsprozess zu bestehen, wenn diese unterschiedlichen Gruppierungen zusammenleben und -arbeiten?

Und was braucht es dafür, damit dieser Entwicklungsprozess gelingen kann?

Wie kann also eine Vision einer „multikulturellen Gesellschaft“ aussehen?

Wie kann es gelingen, dass eine Gesellschaft den Vorteil ihrer Diversität zu ihrem Nutzen einsetzt?

Die Lebenswelt, in der die Gesellschaft diese Prozesse mit Leben füllt, sind die Unternehmen, Stadtverwaltungen, Betriebe. Es sind deren Mitarbeitende und vor allem Führungskräfte, die in der Organisationsentwicklung auf konkrete und mögliche Herausforderungen vorbereitet werden müssen und die in diesem im Prozess durch Begleitung unterstützt werden können.

Gleichzeitig gilt es auch den Menschen nicht-deutscher Abstammung, „mit internationaler Familiengeschichte“, die Möglichkeit zu geben, sich mit professioneller Unterstützung, in einer „neuen“ Gesellschaft und den dort vorherrschenden Strukturen.

Dieser Prozess war früher als Assimilation gedacht, doch in der globalisierten Welt kann und muss dieser, als Akt der Inklusion neu aufgestellt werden.

Migration ist durch unterschiedliche Krisen der Herkunftsländer und Bedarfe der Aufnahmeländer ein Fakt im 21. Jahrhundert. Integration und die damit einhergehende Begegnung der Kulturen bergen nicht nur das schöne und friedvolle Miteinander, sondern auch Spannungen und Konfliktpotential.

In der genaueren Betrachtung dieser Spannungslinien geht es darum, Identitätsdefinitionen nicht nur zu erkennen, sondern vor allem herauszuarbeiten und diese für Veränderungen zu nutzen.

Veränderungsmanagement, Changemanagement, agile Organisationen, Personalentwicklung, agile Leadership, neue Führungsstile, Organisationsentwicklung usw. sind heute Begriffe, mit denen Mitarbeitende in ihren Unternehmen regelmäßig konfrontiert werden.

Immer steht im Focus, Veränderungsprozesse in Unternehmen/Organisationen/Verwaltungen anzustoßen und diese für die Zukunft wettbewerbsfähig zu machen. Globalisierung, Internationalität und Diversität stehen ebenfalls hoch im Kurs.

Nicht selten hört man aber von Mitarbeitenden, dass das die Ideen der neuen Generation sind, die noch nicht lange genug im Unternehmen sind, um zu wissen, „wo der Hase langläuft“.

Diese und andere Haltungen führen zu Konflikten innerhalb von Unternehmen/Organisationen/Verwaltungen, da häufig vergessen wird, dass es sich dabei um keine starren Systeme handelt, sondern, dass in ihnen Menschen arbeiten, die diese Organisationen ausmachen.

Anders als Menschen sind Unternehmen/Organisationen/Verwaltungen in ihrer Kompliziertheit prinzipiell von außen steuer- bzw. kontrollierbar. Sie funktionieren nach definierten und vorgeschriebenen Prozessen.  Damit unterliegen sie einer Trägheit und geringen Dynamik.

Anders verhält es sich mit den Menschen, die in diesen Unternehmen arbeiten. Sie zählen zu den komplexen Systemen. Sie sind lebendig und voller Überraschungen. Ihre Komplexität ist von außen lediglich beobachtbar. Die einzelnen Teile dieses Systems verhalten sich im Zusammenwirken eher dynamisch.

Aus diesem Grundgedanken heraus lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass nicht nur unser Arbeiten, sondern auch die Märkte und somit die Wertschöpfung immer komplexer werden.

Traditionelle, in der Regel hierarchische Organisationsformen, wie wir sie üblicherweise in Unternehmen antreffen, sind für diese hoch komplexen Arbeitsfelder kaum mehr aufgestellt. Der Übergang von der Industriegesellschaft über die Dienstleistungsgesellschaft war die Herausforderung der letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts.

In den letzten Jahren wurde zunehmend das Wissen zur wichtigsten Ressource.

Wissen ist personengebunden und damit haben wir es nicht mehr mit Maschinen, die von Menschen bedient werden zu tun, sondern mit Menschen, die als soziale Wesen in komplexen Systemen handlen.

Eine völlig neu entstehende Dynamik führt unweigerlich zu neuen oder anderen Konflikten im beruflichen Alltag.

Hierbei spielen unterschiedliche Interessen, Missverständnisse, ungeklärte Rollenverteilungen oder auch nicht klar definierte Schnittstellen und Unbekanntes eine große Rolle. Diese können zu Spannungen innerhalb von Teams oder auch zu konflikthaften Situationen führen.

Die Folge daraus ist, dass Arbeitsprozesse mit hoher Belastung entstehen, in denen

nicht der Konflikt und dessen Entstehung das Problem darstellen, sondern die Art und Weise, wie wir damit umgehen.
(Kurt Faller)

Für Organisationen bieten sich unterschiedliche Formate und Chancen der Umgangsweise mit derartigen Konflikten an. Eine große Rolle spielen dabei Supervision, Mediation und Coachings, sowohl von Teams als auch von Einzelpersonen oder Führungskräften, losgelöst von der hierarchischen Ebene.

Im Folgenden soll auf das Coaching in Konfliktsituationen mit interkulturellem Bezug ein Augenmerk gelegt werden, indem das scheinbar Offensichtliche an der Oberfläche liegt, obwohl die Hintergründe für einen Konflikt nicht dort zu suchen sind.

Zunächst erfordert dies, eine Definition für die Begriffe Coaching und Interkulturalität zu finden. Ebenso wie die Systeme, die näher betrachtet werden, ist diese Definition nur eine mögliche Form und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Definitionen

Coaching

All jene die sich schon mit dem Coaching beschäftigt haben wissen, dass der Begriff „Coaching“ nicht geschützt ist. Fast jede:r kann sich als Coach bezeichnen und auch frei wählen, welche Profession vertreten wird.

Das Wort „Coaching“ leitet sich vom englischen Wort „coach“ ab, mit dem zunächst im 15. Jahrhundert die Kutsche gemeint war, später aber der Kutscher. Verbunden hat man damit, dass der Kutscher die Pferde der Kutsche zu betreuen hatte.

Im weiteren Sinn kann man die heute auf andere, aktuelle Bereiche übertragen, z.B. das Coaching in Fußballvereinen. Hierbei umfasst das Coaching eben nicht das reine Training, sondern vielmehr geht es darüber hinaus um die Beratung, Betreuung und die Motivation der Leistungssportler:innen.


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