Inneres Team in der Diabetes-Beratung

Ein Fallbeispiel

Abschlussarbeit von Dorothee Gotthardt, als PDF lesen


Zur besseren Nachvollziehbarkeit des gewählten Fallbeispiels möchte ich zunächst die Rahmenbedingungen meines Fachbereiches näher beschreiben. Diabetes mellitus – meist kurz „Diabetes“ genannt – ist eine Erkrankung des Stoffwechsels. Es gibt verschiedene Typen/ Formen dieser Erkrankung, am bekanntesten sind der Typ 1, der Typ 2 und der Schwangerschaftsdiabetes.
Daneben gibt es noch diverse andere Erscheinungsformen. Eine grundsätzliche Unterscheidung der beiden erst genannten Typen kann (vereinfacht) wie folgt dargestellt werden:

Typ 1 – Diabetes

Die Ursache liegt in einer Reaktion des Immunsystems. Aus bisher nur wenig geklärten Gründen bildet das Immunsystem Antikörper gegen die insulinbildenden Zellen der Bauchspeicheldrüse und löst damit einen kompletten Mangel an lebensnotwendigem Insulin aus. In den meisten Fällen kommt es im Kindesalter oder bei jüngeren Erwachsenen zur Erstmanifestation, es kann jedoch auch im höheren Lebensalter auftreten. Die Therapie erfolgt ausschließlich durch exakt dosierte Injektionen von Insulin, welche mehrmals täglich erfolgen müssen. Zur Ermittlung der Dosierung sind ebenfalls mehrmals am Tag Kontrollen des Blutzuckers notwendig. Unbehandelt führt die Erkrankung in relativ kurzer Zeit zum Tod, es besteht demnach lebenslang eine absolute Insulinabhängigkeit.

Typ 2 – Diabetes

Bei dieser Erkrankung ist die Pathogenese sehr gut erforscht. Zum Einen gibt es eine hohe genetische Disposition. Der Zeitpunkt des Ausbruchs korreliert jedoch maßgeblich mit dem Lebensstil, die Erkrankung wird unter Anderem durch folgende Faktoren getriggert: Übergewicht, Bewegungsmangel, ungünstige Ernährung, anhaltender Stress.
Da diese Faktoren sowohl die Manifestation als auch den Verlauf der Erkrankung stark beeinflussen, ist eine dauerhafte Veränderung des Lebensstils die wichtigste und wirksamste Intervention. Die pharmakologische Therapie des Typ 2 Diabetes erfolgt zunächst oral (Tabletten) und wird im Verlauf häufig auch durch Insulin ergänzt.

Risiken

Die Beschwerden einer insuffizienten Blutzuckereinstellung sind zunächst recht latent und so ist für die Betroffenen die Ernsthaftigkeit der Erkrankung häufig nicht deutlich. Während die erforderlichen Modifikationen der Alltagsgewohnheiten in der Regel als schmerzliche Einschnitte empfunden werden, lassen sich die Signale und Reaktionen des Körpers oftmals lange Zeit ausblenden. Erst nach Jahren zeigen sich sogenannte „diabetische Spätfolgen“ als Ergebnis eines schlechten Blutzuckermanagements. Mögliche Defekte betreffen Herz, Gehirn, Nieren, Augen, Blutgefäße, Nerven, Verdauung und Genitalorgane. Das Risiko für Erblindung, Amputation, Nierenversagen, Herzinfarkt und Schlaganfälle korreliert somit eng mit der Blutzuckereinstellung und dem Lebensstil . Diese Folgeschäden sind in der Regel irreversibel – das gesamte Ausmaß des Diabetes wird für viele Betroffene quasi erst an einem „point of no return“ fühlbar.

Herausforderung

Der Konflikt für viele Betroffene besteht demzufolge darin, trotz anfänglich geringem Leidensdruck dauerhaft einschneidende Veränderungen im Alltag zu etablieren – häufig gegen enorme innere Widerstände. Der Mensch muss also im Heute verzichten, damit im Morgen der Gesundheitszustand möglichst erhalten bleibt.
Diese Investition in die Zukunft ist neurophysiologisch etwas im Nachteil, da wir Menschen unter anderem Motivation über die Aktivierung des Neurotransmitters Dopamin (Belohnungssystem) erhalten. Einen bereits vorhandenen Zustand (die Gesundheit) in prospektiver Sicht nur zu bewahren, ist ein schwer fassbares Ziel und für das Belohnungssystem sehr abstrakt, kaum fühlbar.

Dies betrifft im Besonderen das Thema Gesundheit, denn sie wird von vielen Menschen als ein belastbarer Normalzustand angesehen. Aus meiner Erfahrung heraus empfinden insbesondere viele jüngere Männer ihren Körper als „unkaputtbares“ Vehikel, dazu geschaffen, den „Besitzer“ klaglos zu seinen Zielen zu befördern. Aktuell unerwünschte Bedürfnisse des Körpers werden überhört oder aufgeschoben. Es kann darüber hinaus für manche Menschen als Zeichen von Stärke gelten, auch länger über Grenzen und Warnsignale hinwegzugehen.

Und das Belohnungssystem? Wie reagiert die Dopaminausschüttung? Bei den Themen Ernährung, Gewicht, Bewegung kann eine kurzfristige Verlockung (jetzt mit der Tüte Chips aufs Sofa) gegen das Langzeitziel (in 20 Jahren noch gesund sein) schnell gewinnen. Der Geist wäre willig gewesen, ja – aber „ES“ wurde schwach.

Chancen

Wie kann also für den Menschen mit Diabetes mellitus ein gesunder Lebensstil dennoch attraktiv werden? Was braucht der ganze Mensch, inklusive seinem „ES“?

Zunächst sind Informationen und Aufklärung über die Erkrankung wesentlich. Dies bringt Verständnis für Zusammenhänge, bedient „den Geist“. Im Weiteren gelingt die Kooperation aller Ressourcen jedoch im deutlich tiefgreifender mit Einbeziehung des „ES“, dem gesamten inneren System des Menschen. Gelingt dadurch eine Übersetzung, also werden körperliche Signalen und emotionale Phänomenen als Ausdruck von Bedürfnissen erkannt, wird das ferne Ziel am Horizont bereits im „Hier und Jetzt“ fühlbar mit allen Sinnen fassbar.

Versorgungsstrukturen

Im medizinischen Kontext heraus kommt neben einer ärztlichen Therapie der Diabetesberatung ein hoher Stellenwert zu. Die Beratung erfolgt entweder ambulant in einer sogenannten Schwerpunktpraxis oder – wie in meinem Fall – in einer stationären Einrichtung. Ich arbeite in einem Akutkrankenhaus mit diabetologischen Schwerpunkt, die Patienten bleiben in der Regel 10 – 12 Tage stationär. Währenddessen wird die Therapie neu angepasst und es erfolgt eine strukturierte Schulung.

In diesem Rahmen habe ich meine Erfahrungen aus der Ausbildung zum Systemischen Coach angewandt, im Folgenden werde ich über einen Patienten unserer Klinik berichten.

Fallbeispiel

Herr Müller (Name geändert) wird notfallmäßig von seinem Hausarzt eingewiesen. Er ist 52 Jahre alt, selbstständig als IT-Berater tätig, geschieden, keine Kinder. Er lebt seit 10 Jahren mit Diabetes mellitus Typ 2.

Der Stoffwechsel ist in der Einstellung massiv entglitten, der aktuelle Wert ist gefährlich hoch und der Langzeitwert zeigt eine chronische Entwicklung der schlechten Blutzuckereinstellung. Als Komplikation bestehen bereits Nervenschäden in beiden Füßen (Taubheitsgefühle und Schmerzen). Bisher wurde der Diabetes mit oralen Medikamenten behandelt, es stellt sich nun die Frage, ob dies noch ausreicht oder in welchem Umfang eine supplementäre Insulintherapie notwendig wird.

In der ersten Beratungseinheit erlebe ich Herrn Müller in emotional aufgebrachter Verfassung. Auf meine Frage, was sein Anliegen für den Aufenthalt sei, reagiert er deutlich ambivalent: Ja, die Werte seien schlecht, das ginge so nicht weiter. Er wisse selber, dass die bereits eingetretenen Folgeschäden seine Gesundheit bedrohen, das sei nicht gut. Er mache sich Sorgen, dass mit den Füßen schlimmer werden könne. Aber nein, er habe als Selbstständiger wirklich keine Zeit für einen längeren Krankenhausaufenthalt und er habe auch kein Interesse an einer Schulung.

Zunächst erkenne ich seine Offenheit dankend an. Ich erinnere ihn freundlich daran, dass er freiwillig gekommen sei und dass er auch jederzeit seinen Aufenthaltes selber beenden kann. Aktuell sei er nun ja bei uns und ich biete ihm an, diese Zeit zu nutzen. Ich frage ihn, wie lange er denn bereit sei zu bleiben und ob er für diesen Zeitraum ein Anliegen hat.

„Ja, ein/ zwei Tage werden wohl gehen. Maximal!“ entgegnet er unwirsch. Aber eigentlich wisse er alles und er würde das auch alleine in den Griff bekommen. Es hätte zwar die letzten Jahre nicht so gut hingehauen, aber diesmal würde es klappen. Sein Hausarzt habe „jetzt einfach die Nerven verloren“.

Seine Reaktion erinnert mich an ein Modell von Steve de Shazer zur Unterscheidung von Interaktionsmustern. Ich gewinne den Eindruck, bei Herrn Müller den Typ „Besucher“ zu erkennen. Meine Vermutung verstärkt sich, als der Patient – bereits halb im Aufstehen begriffen – mit dem wütenden Satz seine Ausführungen beendet: „Und kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit irgendeiner Diät!“ Was kann hier mein Auftrag werden? Um dies zu eruieren, zeige ich mich von der Vehemenz der letzten Äußerung etwas beeindruckt, bleibe dabei interessiert zugewandt und äußere spontan:
„Huch, also danke – das war ja jetzt deutlich für mich. Ich habe verstanden, dass Sie selber über Ihre Ernährung entscheiden möchten. Das passt gut zu dem Prinzip, wie wir hier arbeiten. Gibt es denn alternativ zu Ernährungsthemen eine Frage, die Sie mit mir klären möchten?“

Er stutzt, fixiert mich mit einem prüfenden Blick, setzt sich wieder. Nach einem längeren Zögern mit nach innen gekehrtem Blick wendet er sich mir wieder zu. Schaut mich an, gibt dem Gespräch eine neue Richtung und entgegnet sehr offen: „Ja, sorry, dass war grad wohl der Rebell in mir.“

Damit ist ein Stichwort gefallen. Meine Hypothese ist zu diesem Moment, dass Herr Müller mit seiner Ambivalenz einen internen Interessenskonflikt ausdrückt. In seinem Widerstand gegen eine konsequente Diabetestherapie erahne ich Ängste und unbewusste Bedürfnisse, welche seine Impulse steuern und ihn seinen Wunsch nach Gesundheit nachrangig erleben lassen. Mein Ansatz ist deshalb, ihm die Möglichkeit zu einem erweiterten Verständnis seiner selbst zu bieten. Durch seine spontane Benennung eines inneren Anteils („der Rebell“) erscheint mir das Modell des Inneren Teams besonders geeignet.


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